Atomunfall: "Situation nicht so ernst wie oft dargestellt"

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Bei aller Dramatik schließen die beiden Atomphysiker Michael Gerstmayr und Eileen Radde im Interview mit der "Presse" globale Auswirkungen des japanischen Reaktorunfalls in Fukushima nach dem Erdbeben aus.

Die Presse: Wie gefährlich ist die Situation in den japanischen Atomkraftwerken?

Michael Gerstmayr: Die Lage ist ernst. Aber was in Medien herumgeistert, ist oft falsch.

Was ist falsch?

Eileen Radde: Durch das Erdbeben sind vier Anlagen betroffen. Drei davon sind stabil. Das letzte Sorgenkind ist die Anlage in Fukushima. Drei der sechs Blöcke befanden sich in Revision. Die Blöcke eins bis drei wurden schnell abgeschaltet.

Das heißt, die Dramatik wird Ihrer Meinung nach aufgebauscht?

Gerstmayr: Die Situation ist ernst, aber nicht so ernst wie oft dargestellt. Kernschmelzen gab es ziemlich wahrscheinlich keine.

Sie wissen es aber auch nicht.

Gerstmayr: Hundertprozentig kann man das nicht sagen. Man kann in den Reaktor ja nicht hineinschauen.

Wenn man sich die Bilder aus Japan anschaut, könnte man auch zum Eindruck gelangen, dass vieles heruntergespielt wird.

Gerstmayr: Natürlich, wenn man die Explosion des Reaktorgebäudes sieht. Der Reaktorbehälter ist aber ungefähr vergleichbar mit einem Flakturm. Darüber ist eine Leichtbauindustriehalle, und nur die ist explodiert.

Wie sieht das Worst-Case-Sezenario aus?

Radde: Positiv ist, dass die normale Kühlung des Reaktors noch eine Stunde nach der Abschaltung funktioniert hat. In dieser Zeit wurde der Reaktor auf 1,5 Prozent der normalen Leistung heruntergefahren.

Und wie hoch ist sie jetzt?

Radde: Ungefähr 0,4 Prozent. Die größte Gefahr ist unserer Meinung nach vorbei.

In Reaktor zwei gibt es angeblich einen Wasserstand von nur 30 Zentimetern. Was bedeutet das?

Gerstmayr: Das wäre nicht so gut.

Radde: Drei Tage nach dem Beben wäre der Hauptteil der Nachzerfallswärme aber schon abgeführt.

In welchen Dimensionen im Vergleich zu Tschernobyl bewegen wir uns jetzt?

Gerstmayr: Das kann man nicht vergleichen. Radioaktivität wurde in Fukushima kontrolliert abgelassen. Dieser Dampf ist dann explodiert, was nicht so geplant war. Die Integrität des Reaktors blieb aber erhalten.

Wie viel Radioaktivität ist herausgekommen?

Radde: Die IAEA gab bisher nur einen einzigen Wert heraus: 20 Mikrosievert pro Stunde am Eingang von Fukushima 3.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Radde: Ich würde dort hingehen.

Gerstmayr: Das ist exakt die Grenze, bei der eine Meldung gemacht werden muss.

Wie hoch ist die Belastung beim Röntgen?

Gerstmayr: Das können schon ein, zwei Millisievert sein. Das heißt, bei einem Röntgen ist die Dosis ungleich höher, ganz zu schweigen von einem CT.

Schwedens Strahlensicherheitsbehörde sagt, dass eine schwache Strahlung in zwei Wochen in Europa sein wird. Welche Auswirkungen hat das?

Radde: Der Unfall wurde auf Stufe vier der Ines-Skala eingestuft. Ines hat sieben Stufen. Stufe eins bis drei ist ein Zwischenfall, Stufe vier bedeutet einen Unfall mit lokalen Konsequenzen. Tschernobyl war Stufe sieben.

Gerstmayr: Eine Beeinträchtigung in Europa ist absolut auszuschließen.

Stellt der Reaktorunfall in Japan den Einsatz von Kernenergie infrage oder zeigt er, dass Atommeiler selbst Megabeben überstehen können?

Gerstmayr: Ich würde sagen Zweiteres. Die betroffenen Reaktoren sind auf westlichem Standard, aber 40 Jahre alt. Neue Generationen haben Sicherheitsausrüstungen, die selbst eine Kernschmelze sicher auffangen.

Wie sieht es mit den AKW rund um Österreich aus?

Gerstmayr: Aus unserer Sicht sind die alle in einem ziemlich guten Zustand.

Radde: Beim EU-Beitritt mussten alle auf modernsten Stand gebracht oder abgeschaltet werden – selbst in baltischen Staaten, wo extrem veraltete Reaktoren gestanden sind.

Und was ist mit der Ukraine oder Russland?

Gerstmayr: Da gibt es noch eine Reihe veralteter Reaktoren.

Auf einen Blick

Eileen Radde ist technische Physikerin und beschäftigt sich mit der physischen Sicherheit von Kernkraftwerken. Seit 2009 arbeitet sie am Wiener Atominstitut der Technischen Universität.

Michael Gerstmayr ist technischer Physiker an der Technischen Universität Wien und war auch Konsulent der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. [Hottowy Sabine]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2011)

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