In den Katastrophengebieten wird Lage immer prekärer

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Sorge und Wut: Die Einwohner der verwüsteten Küstenregionen erleben eisige Temperaturen und Wasserknappheit. Die Katastrophengebiete brauchen dringend Unterstützung.

Es scheint, als hätte sich die Natur gegen Japan verschworen. Erdbeben, Tsunami und immer wieder Nachbeben in einer wohl noch nie da gewesenen, schrecklichen Abfolge. Nun trotzt auch noch das Wetter: Statt schöner Kirschblüte, wie Mitte März hier sonst fast immer üblich, herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt, erschweren nasser Schnee und eiskalter Regen die Bergungsarbeiten und natürlich die ohnehin unvorstellbare Lage der hunderttausenden Gestrandeten in den Notunterkünften.

Die Bewohner der betroffenen Küstenregionen im Nordosten sind wütend über ihre verheerende Situation. Der Gouverneur der Katastrophenprovinz Fukushima, Yuhei Sato, hat einen Notruf an die gesamte Welt gerichtet, die Betroffenen nicht im Stich zu lassen: „Sorge und Wut der Menschen in Fukushima haben ihre Grenze erreicht.“ Doch die Retter seien nicht bereit, in den verstrahlten Gebieten zu bleiben. Ganze Mannschaften wie das „Technische Hilfswerk Deutschland“ sind aus den Katastrophengebieten offenbar bereits wieder abgezogen. Dabei gebe es, wie vereinzelte Beispiele zeigen würden, noch eine Chance, Überlebende zu finden.

Leichen mit bloßen Händen weggeschoben

In der völlig verwüsteten Hafenstadt Sendai konnten am Mittwoch – also 72 Stunden nach der Katastrophe – noch zwei Überlebende aus dem Schutt geborgen werden. Viele Menschen sind jedoch durch die zerstörte Infrastruktur in den am schlimmsten betroffenen Provinzen, Miyagi, Ibaraki, Iwate und Fukushima, von der Außenwelt abgeschnitten. Ein Krankenhaus in der Stadt Ishinomaki war nach dem Tsunami komplett von Wassermassen umgeben. Nur durch das beherzte Eingreifen eines Österreichers konnten die über 1000 Eingeschlossenen gerettet werden, wie die „Presse“ erfuhr.

Nachdem drei Tage lang keine Rettungskräfte in die Nähe des Gebäudes vorgedrungen waren und die Trinkwasser- und Nahrungsmittelvorräte langsam knapp wurden, versuchte einer der Ärzte, auf eigene Faust Hilfe zu holen. Knietief watete er durchs Wasser, schob mit bloßen Händen die Leichen beiseite. Verzweifelt versuchte der Mann, ein Geschäft zu erreichen – erfolglos. Schließlich gelang es ihm, mit dem letzten Akku-Rest per Handy seine Schwester in Tokio zu erreichen und ihr von seiner katastrophalen Lage zu berichten. Diese wiederum informierte umgehend ihren Freund Werner Wiessböck in Wien, der in Tokio als Handelsattaché tätig war und als Vizepräsident der Österreichisch-Japanischen Gesellschaft auch heute noch häufig nach Japan reist.

„Mangelnde Solidarität!“

Wiessböck verständigte den ORF über die Lage der Betroffenen in dem von der Außenwelt abgeschnittenen Krankenhaus in Ishinomaki, dieser leitete die Information an den japanischen Staatssender NHK weiter. So erfuhren die zuständigen Einsatzkräfte in der Region von den Eingeschlossenen; und die mehr als 1000 Menschen konnten gerade noch gerettet werden. „Die Lage vor Ort ist dramatisch. Dennoch sind die japanischen Einsatzkräfte unheimlich engagiert, haben die Lage so weit im Griff“, berichtet Wiessböck der „Presse“. Wie viele Gebiete aber tatsächlich noch von der Außenwelt abgeschlossen sind, wie viele Menschen noch irgendwo verzweifelt auf Hilfe warten, kann niemand sagen. „Das wüssten die japanischen Behörden wohl auch gerne.“

Die Katastrophengebiete brauchen daher dringend Unterstützung. Im Umkreis von 20 Kilometern des havarierten Kernkraftwerkes Fukushima waren bisher rund 200.000 Einwohner vor der radioaktiven Strahlung in Sicherheit gebracht worden. Jetzt sollen 28.000 weitere Anwohner die Region verlassen. 1,6 Millionen Haushalte sind nach der Katastrophe noch immer ohne fließendes Wasser, 850.000 ohne Strom.

Insgesamt sind etwa eine halbe Million Menschen in Notunterkünften untergebracht. In seiner Verzweiflung klagte Gouverneur Sato mehr Solidarität ein. Die Menschen in den Notlagern seien nicht ausreichend mit Nahrung und Gütern des täglichen Bedarfs versorgt. „Lebensmittel und Öl sind auf dem Weg, sie haben die Notfallzentren aber noch nicht erreicht.“

Kampf ums nackte Überleben

Viele der Überlebenden sitzen traumatisiert auf ihren Decken. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. „Neben der Versorgung mit Decken, Wasser und Nahrung wäre für diese Menschen insbesondere psychologische Betreuung wichtig – immerhin haben sie alles verloren“, sagt Wiessböck der „Presse“. Die dramatischen Nachrichten aus dem Kraftwerk FukushimaI, die die Welt in Atem halten, kann hier keiner mehr hören. Es geht ums nackte Überleben, wenn es bei eisigen Temperaturen keinen Strom gibt, kein Trinkwasser und keine Nahrung.

Die Zahl der Erdbeben- und Tsunami-Opfer steigt immer weiter. Der Fernsehsender NHK bezifferte die Zahl der Toten und Vermissten unterdessen mit mindestens 12.000. Offiziell wurden bisher 4100 Leichen identifiziert. Inzwischen versuchen Ingenieure und Techniker im Kraftwerk FukushimaI unter Lebensgefahr, die ganz große nukleare Katastrophe zu verhindern und die Kühlsysteme der Reaktoren aufrechtzuerhalten. 50 von zuvor 800 Mitarbeitern sind im Schichtbetrieb im Einsatz, arbeiten in Strahlenanzügen mit Sauerstofftanks auf dem Rücken. Wenigstens die Bevölkerung Tokios konnte am Mittwoch trotz eines weiteren Nachbebens leicht aufatmen.

Für sie war das schlechte Wetter insofern ein Segen, als die starken Winde die radioaktiven Partikel aufs Meer wehten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2011)

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