Polen auf Überholspur in Deutschland

(c) Polnisches Fremdenverkehrsamt
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Immer mehr Stettiner kaufen Häuser in Ostdeutschland. In die polnische Heimat kommen sie nur noch zum Arbeiten. Zweisprachige Immobilienreklame säumen den Weg durch malerische ostdeutsche Dörfer.

Stettin. Sie suchten eigentlich nur finanzierbaren Wohnraum. Heute lebt Dana Jesswein zusammen mit ihrem Mann im mecklenburgischen Schwennenz, einen Kilometer von der Grenze entfernt. „Das Haus konnten wir für den Preis einer Einzimmerwohnung im Stettiner Stadtzentrum kaufen“, schwärmt die junge Kulturanimatorin. Seit vier Jahren pendelt das polnische Paar täglich in die 500.000-Einwohner-Stadt Szczecin (deutsch: Stettin). Nur 30 Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto. In Deutschland sind sie nur zum Schlafen.

Wie dem jungen Paar geht es Tausenden von Stettinern. Seit Polens Schengenbeitritt Ende 2007 sind bis zu 2000 Familien in die grenznahen ostdeutschen Landkreise Uckermark (Brandenburg) und Uecker-Randow (Mecklenburg-Vorpommern) umgezogen.

Neuer Kindergarten in Löcknitz

Die Kleinstadt Löcknitz, nur 24 Kilometer vom Stettiner Stadtzentrum entfernt, hat sich zu einem Zentrum der polnischen Umsiedler entwickelt. Zweisprachige Immobilienreklame säumen den Weg dorthin durch malerische ostdeutsche Dörfer am Ende der Welt. Manche Hausbesitzer verzichteten gar ganz auf deutsche Angebote, lacht der Immobilienhändler Radoslaw Popiela, der seit drei Jahren 500 Meter von der Grenze auf deutschem Boden lebt. Seit deutsche Banken 2010 begonnen hätten, auch Kredite an Polen zu vergeben, die nicht in Deutschland arbeiteten, erlebe er einen wahren Boom. „Die Zinsen finanzieren sich mit dem deutschen Kindergeld“, wirbt Popiela.

Abwanderung und Überalterung gehörten zu seinen Hauptproblemen, sagt der stellvertretende Löcknitzer Bürgermeister Horst Heiser. „Die Polen sind eine große Chance für uns“, betont er. Dank der Neuzuzügler aus Stettin habe man das Gymnasium erhalten können, und nun könne gar ein neuer Kindergarten gebaut werden. Heiser gibt offen zu, dass die meisten der 3200 Einwohner anfangs skeptisch waren.

„Heute haben wir gar polnische Unternehmer hier“, freut sich der frühere Firmenchef des längst abgewickelten VEB Bauelementewerks Löcknitz. Ein polnischer Elektroniker und ein Gewürzhersteller haben Dutzende neue Arbeitsplätze geschaffen.

Optimistischer als Deutsche

Die Skepsis von Anfang an miterlebt hat Renata Stachewicz. „Als wir 2008 hier unser Haus bauten, begannen die Löcknitzer plötzlich, ihre Fahrräder abzuschließen“, sagt die Inhaberin des Gardinenladens. Doch heute tue das bei ihr im Quartier trotz der vielen Polen fast niemand mehr. „Wir schauen immer auf die deutschen Nachbarn und machen es so wie sie“, erzählt die Polin. Nur eines gelinge ihr nicht: So pessimistisch wie die Deutschen zu werden. „Wir Polen bringen Vitalität nach Löcknitz; wir wollen arbeiten und etwas erreichen“, lacht die Geschäftsfrau.

In Gesprächen mit den Alteingesessenen ist kein böses Wort über die rund 300 Polen in Löcknitz zu hören. Dennoch hat die mit polenfeindlichen Ressentiments operierende rechtsextreme NPD im Sommer 2009 zwei von 14 Sitzen im Gemeinderat erobert. Dies sorgte vor allem in Berlin und Warschau für viel Aufregung.

Zweisprachige Bäckereien

Im Gemeindehaus wurde daraufhin eine zweisprachige Beratungsstelle einrichtet. Vor allem polnische Umsiedler suchen dort Rat bei Sprachproblemen und Behördenkontakt. Der polnische Nachbar wische das Trottoir vor seinem Haus nicht, klagte unlängst ein Deutscher. Die beiden Beraterinnen vermittelten.

Der Bäcker des nahen Dorfes Bismark, wo bereits ein Drittel der paar hundert Einwohner Polen sind, ist dagegen dazu übergegangen, seine Brotpreise zweisprachig anzuschreiben.

Auf einen Blick

Stettin (poln. Szeczecin) ist die siebtgrößte Stadt Polens und Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Westpommern. Stettin – einer der größten Seehäfen des Ostseeraums – liegt per Auto nur rund eine halbe Stunde von der deutschen Grenze entfernt. Rund 500.000 Menschen leben im Großraum Stettin. Viele Polen weichen aufgrund der hohen Wohnungsmieten auf das benachbarte Deutschland aus. Dort sind die Lebenshaltungskosten wesentlich günstiger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2011)

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