Südafrika: Die Kindsmörderin vom Kap

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Symbolbild(c) EPA (Nic Bothma)
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Tik heißt in Südafrika die Droge, die Kinder zu Monstern macht und Teenager zur Raserei bringt. Und Eltern zur Verzweiflung. Ellen Pakkies wusste sich nicht mehr zu helfen - und tötete ihren 20-jährigen Sohn.

Nachdem sie es getan hat, lässt sie sich Wasser ein für ein Bad. Es ist jetzt ganz still in der Wohnung. Kein Fluchen, kein Schreien. Zum ersten Mal seit Jahren. Sie steigt in die Wanne. Sie wäscht sich. Sie lässt sich Zeit. Keiner wird sie heute stören. Sie ist sicher.

Als sie sich angezogen hat, geht sie noch einmal in den Schuppen auf dem Hof. Ihr Sohn liegt noch immer auf dem Bett. Den Kopf hat er ins Kissen gebohrt, die Beine angewinkelt. Wie ein erschöpftes Kind, das der Schlaf übermannt hat. Die straffe Schnur um seinen Hals ist in der Morgendämmerung kaum zu sehen. Sie bleibt eine Weile an der Tür stehen, wartet, ob sie etwas fühlt. Doch da ist nichts. Nur Müdigkeit. Und Erleichterung. Sie schließt die Tür. Dann geht sie zur Arbeit.

Am Morgen des 12. September 2007 tötete Ellen Pakkies, 45, Altenpflegerin aus Kapstadt, ihren 20-jährigen Sohn. Sie erdrosselte ihn mit einer Schnur, es muss ein harter Kampf gewesen sein, ihre Hände wiesen tiefe Striemen auf. Am selben Tag stellte sie sich der Polizei: „Ich habe meinen Sohn umgebracht. Ich konnte nicht mehr. Es tut mir leid.“ Dann brach sie in Tränen aus.

Kindsmörderinnen werden fast immer von der Gesellschaft ausgestoßen, werden zu Parias. Ellen Pakkies wurde zur Heldin. Wer ihre Geschichte verstehen will, muss weg von den schicken Malls und hippen Bars der Urlaubsmetropole Kapstadt. Hinein in die überfüllten Wohnblöcke und Hütten der Cape Flats. Auf die sandigen Ebenen östlich des Tafelbergs vertrieb das Apartheidregime in den Sechziger- und Siebzigerjahren alle nicht weißen Kapstädter. Hier wuchs auch Ellen Pakkies auf. Und hier lebt sie heute noch. In Lavender Hill, einem Township zwanzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.

Wäsche flattert im heißen Wind zwischen unverputzten Mauern, Kinder turnen auf Mülltonnen herum, aus den offenen Türen der Wohnungen ruft, schimpft, lacht und klappert es. Ellen Pakkies steht auf dem Parkplatz ihres zweistöckigen Wohnblocks und winkt. Sie ist eine kleine, gepflegte Frau mit sanften Knopfaugen und elegant geknotetem Seidenschal, die einen zur Begrüßung mit beiden Armen drückt und dann in ihre kleine, durch Gitter geschützte Parterrewohnung schiebt: „Schnell, die schauen schon.“ Sie deutet zum anderen Ende des Parkplatzes. Drei Männer lehnen an ihren Autos. Die ausgewaschenen Jeans hängen tief, die nackten Oberkörper sind tätowiert. Aus den Autoradios wummert Rap. Auf der Wiese daneben liegt eine Gruppe Teenager. „Die Druglords und ihre Kunden“, sagt Ellen. „Wenn ich sie sehe, muss ich an Abie denken. Er sah genauso aus. Es tut noch immer weh.“


Verdächtiger Geruch. Ellen Pakkies' jüngster Sohn Abie nahm Drogen, wahrscheinlich, seit er zwölf war. Genau kann das seine Mutter nicht sagen. Woran sie sich aber noch sehr gut erinnert, ist jener Sommertag vor acht Jahren. Da nimmt sie in ihrer Wohnung erstmals diesen Geruch wahr. Als ob jemand Gummibärchen schmelze. Ellen kennt den Geruch vom Haus neben der Bushaltestelle. „Die kochen dort Tik“, hat ihr eine Bekannte zugeflüstert. „Das ist diese neue Droge, die Kinder zu Monstern macht. Pass auf, dass dein Bub die Finger davon lässt!“

Ellens Leben ist eine dieser typischen Township-Biografien. Vom Stiefonkel als Kind vergewaltigt, von den ersten beiden Ehemännern misshandelt, schlägt sie sich jetzt als Altenpflegerin durch. Ihr jetziger Mann Odneal arbeitet als Parkplatzwächter. Ihre Wohnung ist eine Art Trutzburg gegen das raue Township-Leben: hübsche Möbel, viele Blumen, ein sonniger Hinterhof mit Schuppen. Doch jetzt ist da dieser Geruch. Und der Verdacht. Ellen durchsucht die Wohnung. Im Zimmer von Abie, damals 14, findet sie eine aus einer Glühbirne gebastelte Glaspfeife. Auf dem Pfeifenboden kleben festgebackene Pulverreste. Ellen schnüffelt daran: Tik.

Es ist ein Klima aus Armut, Frust und Hoffnungslosigkeit, in das die neue Droge einschlägt wie eine Bombe. Aus Zutaten wie Rattengift, Batteriesäure und WC-Duftstein lässt sich Tik spottbillig herstellen. Eine Portion kostet nur rund fünf Euro. Wer Tik raucht, fühlt sich wie Superman. Wer Tik raucht, muss kaum mehr schlafen. Wer Tik raucht, will Sex. Vor allem unter den „Coloureds“, der von Ureinwohnern und ehemaligen malayischen Sklaven abstammenden Minderheit, finden die Dealer Kunden. Die „Coloureds“ sitzen im neuen Südafrika zwischen allen Stühlen. Förderprogramme der Regierung richten sich fast nur an Schwarze. Mischlinge sind oft ebenso arm, doch sie bleiben meist unbeachtet. Ellen Pakkies ist eine „Coloured“.


Beschaffungskriminalität. Bald stechen 15-jährige Burschen für ein paar Rand Passanten nieder. Schulmädchen gehen anschaffen. Die Beschaffungskriminalität steigt zwischen 2002 und 2006 um ein Vierfaches. Bis zu 250.000 Menschen, schätzen Experten, rauchen am Kap regelmäßig Tik. Ist Abie einer von ihnen? Ellens Sohn streitet alles ab. Und sie glaubt ihm, Abie ist ihr Lieblingssohn. Kochen sie nicht jeden Abend zusammen? Erzählen sie sich nicht alles? Doch auf Kochen und Plaudern hat Abie bald keine Lust mehr. Er wird gereizt, schwänzt die Schule, verbarrikadiert sich in seinem Zimmer. Als Ellen sich einmal weigert, ihm Geld zu geben, schlägt Abie aus Wut ein Fenster ein. Bald bricht er die Schule ab. Als Ellen ihm kein Geld mehr gibt, verkauft Abie seine CDs. Dann seinen Fußball. Dann seine Hosen, Hemden und Schuhe. Er beginnt, seine Eltern zu bestehlen. Erst Wechselgeld. Dann Kleider, Geschirr, Besteck, Vorräte.

Als Ellen eines Morgens ins Bad kommt, sind die Leitungen aus der Wand gebrochen. Sechsmal zeigt Ellen ihren Sohn bei der Polizei an. Immer kommt er nach wenigen Tagen wieder frei. Man könne nichts beweisen, heißt es. Und: Sie solle nicht so drängeln. Als Ellen für Abie endlich einen Platz in einem ambulanten Rehabilitationszentrum bekommt, verschläft er den ersten Termin und fliegt aus dem Programm.

Ellens sorgsam gehegtes Idyll stürzt in sich zusammen. Odneal fängt an zu saufen und ist als Vater nicht mehr zu gebrauchen. Freundinnen hat sie nicht. Ihr bleibt nur Gott. „Was ist los mit meinem Sohn?“, flüstert sie nachts, wenn sie wartet, dass Abie von seinen Streifzügen nach Hause kommt. „Was muss ich tun, um ihn nicht zu verlieren?“ Doch sosehr ihr das Beten früher half, diesmal scheint sogar Gott nicht weiterzuwissen.

In den „Coloureds“-Townships kämpfen zur gleichen Zeit tausende Mütter mit ihren wild gewordenen Söhnen. Tik hat eine ganze Generation im Griff. Fast immer sind es die Mütter, die mit den Junkies zurechtkommen müssen, die Väter trinken oder sind schon lange abgehauen. Manche Frauen haben ihr Hab und Gut bei Nachbarn deponiert, damit ihr Sohn nichts davon stiehlt. Manche tragen immer ein Messer in der Tasche, um sich zu schützen. „Schlaf mit mir“, brüllen 16-Jährige mit heruntergelassenen Hosen vor ihren Müttern. „Ich brauche Sex!“ Kaum eine Mutter traut sich, offen über solche Szenen zu sprechen.


Sicherheitsschlösser. September 2007. Für Ellen ist die Wohnung zum Gefängnis geworden. Abie schläft jetzt im Schuppen. Nachdem er mit einer Schere auf sie losgegangen war, hat Ellen ihn dorthin verbannt. Die Wohnung hat sie mit Sicherheitsschlössern und Fenstergittern verrammelt. Ihre letzten Kleider trägt sie in einem Koffer bei sich. Denn irgendwie findet Abie immer einen Weg ins Haus. Manchmal schlängelt er seinen dürren Körper einfach durch das Gitter vor dem Fenster. Nachts brüllt er im Hof wie ein wildes Tier: „Ich werde euch alle töten!“

Ellen schläft kaum noch. „Vater, bitte mach, dass Abie irgendetwas anstellt und verhaftet wird. Ich kann nicht mehr!“, betet sie. „Das Schlimmste war, dass ich Abie immer noch liebte“, sagt sie heute. „Ich wollte, dass er sich bei mir geborgen und verstanden fühlt. Meiner eigenen Mutter war es ja immer völlig egal, wie es mir ging. Ich wollte es besser machen: Abie sollte mit mir über alles reden können.“War er überhaupt noch ansprechbar? „Manchmal, ja. Er saß dann auf dem Hof, ich stand in der Wohnung, hinter der Gittertür, weil ich Angst hatte, dass er auf mich losgeht. Dann haben wir uns unterhalten. Meistens hat er aber gleich angefangen zu schimpfen: Ich würde ihn nicht lieben. Weil ich ihm kein Geld gebe.“

Katathymische Krise nennen es Psychologen, wenn sonst eher sanftmütige Menschen plötzlich mit extremer Brutalität zuschlagen. Ein konkretes Motiv gibt es dann nicht. Nur die vage Erinnerung an vergleichbare Situationen, in denen der Täter selbst schwer missbraucht wurde. Eine katathymische Tat ist wie ein Sprengsatz, der erst nach Jahren zündet.

Bei Ellen explodiert er am 12.September 2007. Tags zuvor hat Abie wieder die Wohnung verwüstet. Als Ellen heimkommt, sieht sie ihn gerade noch wegrennen. Nachts macht sie kein Auge zu. Noch einmal will sie mit ihm reden. Ihn bitten, mit den Drogen aufzuhören. Als Odneal am Morgen in der Arbeit ist, geht sie in den Schuppen. Warum sie im Vorbeigehen die Schnur mitnimmt, kann sie später nicht mehr sagen. Abie liegt auf dem Bett und schläft. Wie in Trance verknotet Ellen die Schnur zu einer Schlinge. Die legt sie Abie um den Hals. Das andere Ende wickelt sie um den Bettpfosten. Sie zieht an der Schnur. Ganz leicht zunächst. Abie wacht auf, starrt sie an.

„Sprich mit mir, Abie!“, sagt Ellen. „Wirst du endlich auf mich hören?“ – „Ja, ja, ich werde auf dich hören!“ Den Satz hat Ellen schon oft gehört. Von Abie, ihren Exmännern, ihrer Mutter. Sie weiß: Er bedeutet nichts. Absolut nichts. Sie zieht fester. Abie rudert mit den Armen. Er bekommt eine Latte zu fassen, die vor dem Bett liegt, schlägt damit nach Ellen. Abie ist stark, ein Mann fast. Und er ist auf Tik. Doch Ellen kann ihr Körpergewicht einsetzen, wenn sie an der Schnur zieht. Irgendwann lässt Abie die Latte fallen. Und Ellen zieht weiter. Und zieht. Und zieht. Bis endlich Stille ist. Ellen schließt die Augen: „Vater, vergib mir für das, was ich getan habe“, sagt sie. Dann lässt sie die Schnur los.


Täterin oder Opfer? Ellens Tat schockiert die Provinz. Erst als bekannt wird, dass Abie tiksüchtig war, ändert sich die Stimmung. Vor allem in den Townships. Die Mutter aus Lavender Hill wird zur Heldin, zum Symbol für die Verzweiflung tausender Mütter drogensüchtiger Kinder. Die Menschen spenden Geld für ihre Kaution. Ein bekannter Anwalt ist bereit, sie kostenlos zu verteidigen. Der Prozess dauert über ein Jahr und wird zur Innenschau einer Stadt, die gern vergisst, dass sich für viele auch nach der Apartheid wenig änderte. Vor dem Gericht halten Demonstranten Schilder in die Höhe: „Ellen Pakkies ist Opfer, keine Verbrecherin!“

Auf den Hof traut sie sich während des Prozesses nicht. Zu groß ist der Schmerz. Zu tief sitzt die Reue. Nachts hört sie dort Schritte. „Abie, was willst du?“, ruft sie dann ins Dunkel. Doch keiner antwortet. Ellen bereitet sich darauf vor, den Rest ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen.

Das Urteil fällt am 11.Dezember 2008. Ellen wird zu drei Jahren Bewährung und 280 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. „Das Verbrechen muss im Kontext ihrer Verzweiflung gesehen werden“, sagt die Richterin. Und zu Ellen: „Es ist jetzt Ihre Pflicht, hinauszugehen und die Menschen aufzuklären.“ Und Ellen geht hinaus. Spricht in Kirchen, Schulen, Gemeindehäusern in ganz Südafrika. Von Abie, sich selbst, ihrem Kampf. Am Anfang schüttelt die Erinnerung sie wie ein böser Geist, sie zittert, schluchzt. Auch heute weint sie meist, wenn sie von Abie erzählt. „Es tut aber nicht mehr weh. Das Reden heilt mich.“

Und es scheint, als würde es auch denen helfen, die ihr zuhören. Die Hallen und Kirchen sind immer voll, die Menschen hängen an Ellens Lippen. Nicken wissend, wenn sie von leergeräumten Kleiderschränken berichtet. Klatschen wild, wenn sie Politiker und Polizei auffordert, die Mütter ernst zu nehmen. „Für Mütter ist es heute etwas leichter geworden, ihre drogensüchtigen Söhne ins Gefängnis zu bringen“, sagt Ellen. „Es gibt auch mehr ambulante Kliniken. ,Ihr müsst so lange drängeln, bis man euch hilft‘, sage ich bei meinen Vorträgen. ,Werdet nicht so, wie ich war. Rettet eure Kinder!‘“

Es ist Nachmittag geworden. Die Mauer des Hinterhofs wirft lange Schatten, als Ellen zum Schuppen vorangeht. Ein Jahr nach dem Mord hat sie ihn zum ersten Mal wieder betreten. Zusammen mit ihrer Schwester. Ellen öffnet die Tür. Da steht das Bett, auf dem Abie schlief, da hängen die Vorhänge, durch die er blickte. „Wenn ich mich nach ihm sehne, gehe ich hierher“, sagt Ellen und zieht die Tür langsam wieder zu. „Jeden Tag.“

Die Droge

Rund um das Jahr 2000 erobert eine neue Droge den Markt in den südafrikanischen Townships: Tik. Es ist der südafrikanische Name für Methamphetamin. Dabei handelt es sich um ein Pulver, das die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als Aufputschmittel benutzte und das in den 1990er-Jahren in den USA zur Modedroge avancierte.

Tik gibt den Süchtigen ein Allmachtsgefühl und befeuert ihren Sexualtrieb. Am Kap dürften nach Schätzungen rund 250.000 Menschen abhängig sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2011)

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