Amanda Knox: Ein unbegreiflicher Mord

Amanda Knox unbegreiflicher Mord
Amanda Knox unbegreiflicher Mord(c) AP (Pier Paolo Cito)
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Hat die Studentin Amanda Knox ihre Mitbewohnerin im Drogenrausch getötet? Einer der spektakulärsten Mordfälle der letzten Jahre geht am Montag in Italien in die letzte Runde.

Im Leben von Edda und Chris Mellas gibt es nur noch eine Gewissheit: Es wird nie mehr sein wie zuvor. „Falls man es noch Leben nennen möchte“, sagt Edda Mellas leise und schiebt sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Nervös huschen ihre Augen über die Piazza, taxieren die Reporter aus aller Welt, die vor dem Gerichtsgebäude nebenan stehen, dann wandern sie zu ihrem Mann, der ihr gegenüber im Café sitzt.

Er versucht so etwas wie ein Lächeln. Es folgt einer der vielen wuchtigen Sätze in diesem rätselhaften Mordfall, der von Beginn an polarisiert und Emotionen geschürt hat. „Wir haben kein Leben mehr, seit vier Jahren schon“, sagt Chris Mellas. Er hat längst Routine im Umgang mit den Medien, das spürt man. Zu spüren ist aber auch die Qual von Eltern, die fürchten müssen, dass ihre Tochter und Stieftochter die nächsten Jahrzehnte im Gefängnis in einem fremden Land verbringen wird. „Wir müssen weitermachen, von Tag zu Tag, irgendwie versuchen zu überleben.“ Noch so ein Satz. Und nie die Hoffnung aufgeben. Chris Mellas fährt sich mit der Hand über das kurze, lichter werdende Haar. Sein Blick verliert sich im Ungewissen.

Drinnen, in einem Saal tief unten in einem Kellergewölbe des altehrwürdigen Gerichtshofes von Perugia, berät sich Amanda Knox zur gleichen Zeit mit ihren Anwälten. Es ist die erste Verhandlungspause an diesem Spätsommertag. Am Morgen, als sie von ihrer Zelle in einem Gefängnis außerhalb von Perugia zum Gericht im Herzen der Stadt gebracht wurde, warteten wieder die Fernsehteams aus aller Welt, hielten fest, wie sie jetzt aussieht, was sie trägt und wie sie sich benimmt.

Kommt Knox frei? Blass ist sie und schmal, man sieht ihr die Anspannung an, sie lächelt nur noch selten. Vor Kurzem hat Amanda Knox ihren 24. Geburtstag gefeiert, in der Haftanstalt, in der sie seit fast vier Jahren einsitzt. Ein Schwurgericht hatte sie im Dezember 2009 für schuldig befunden, zwei Jahre zuvor mit ihrem damaligen Freund Raffaele Sollecito, einem Informatikstudenten aus Süditalien, und Rudy Guede, einem Kleindealer, der aus der Elfenbeinküste stammt, ihre Mitbewohnerin Meredith Kercher bestialisch ermordet zu haben.

Knox und Sollecito haben Berufung eingelegt, und das Verfahren geht jetzt in seine entscheidende Phase. Mittlerweile halten es viele Beobachter für wahrscheinlich, dass Amanda Knox Anfang Oktober, wenn das Urteil ergehen soll, freikommen wird, mangels eindeutiger Beweise und weil es Zweifel an den Ermittlungsmethoden gibt. „Wir sind zuversichtlich“, sagt Chris Mellas bestimmt. Edda Mellas, eine kleine, eher unscheinbare Frau Ende 40, ist vor zwei Tagen angereist, zum mindestens hundertsten Mal. Die Mathematiklehrerin aus Seattle hat einen zweiten, leeren Koffer mitgebracht. „Wir hoffen, dass dieser Albtraum bald ein Ende hat.“

Der Albtraum hat die Patchworkfamilie von Amanda Knox an ihre Grenzen gebracht. Mehr als eine Million Euro hat sie bereits für den Prozess ausgegeben. Ohne Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen, sagt Chris Mellas. Zu Hause hat seine Stieftochter einen riesigen Fanklub, der glühend an ihre Unschuld glaubt. Mellas, ein Computerspezialist in den 30ern, ist vor einem Jahr ganz nach Perugia umgezogen. Zweimal in der Woche darf er Amanda besuchen. Seinen Job könne er auch in Perugia ausüben, sagt er, dem Internet sei Dank. Curt Knox dagegen, Amandas leiblicher Vater, hat seine Arbeit verloren, weil er zu oft nach Italien gereist ist. Auch er ist jetzt wieder in Perugia, sitzt neben seiner Exfrau und deren Mann in der Verhandlung.

Dass sie unschuldig ist, stand für die Familie vom ersten Tag an fest. Amanda, die begabte Jesuitenschülerin und Einserstudentin, sei ein Opfer der italienischen Justiz, die ein erstes Geständnis mit nicht zulässigen Methoden erzwungen habe. Vor Gericht ist es deshalb nicht verwendbar, und Knox hat seither immer beteuert, dass sie unschuldig sei. Dennoch wurde sie zu 26, Sollecito zu 25Jahren Haft verurteilt. Guede erhielt in einem separaten Prozess 30 Jahre Gefängnis, später wurde die Strafe auf 16Jahre reduziert.

Was sich aber in jener Nacht vom 1. auf den 2.November 2007 in dem kleinen Haus gleich hinter der Ausländeruniversität tatsächlich zugetragen hatte, konnte das Gericht nicht zweifelsfrei aufklären. Kercher, eine bildschöne Erasmus-Studentin aus der britischen Stadt Leeds, war dort am Vormittag des 2.November brutal zugerichtet und halb nackt gefunden worden, mit aufgeschlitzter Kehle und am ganzen Körper von Messerstichen übersät. Damit enden die Gewissheiten.

Heilige und Hure. Der Fall hat bereits Geschichte geschrieben. Und es ist längst nur noch der Fall von Amanda Knox. Der „Engel mit den Eisaugen“ beflügelte die (Männer-)Fantasien, es wurden Bücher über sie verfasst und Filme gedreht. Vor allem für die italienische Öffentlichkeit schien damals rasch alles klar. Die Medien stilisierten den Mord zu einer modernen Variante der Geschichte von der Schönen und dem Biest, von der Heiligen und der Hure. Auf der einen Seite war da die strebsame, tugendhafte Meredith Kercher, auf der anderen Amanda Knox, die nur auf eines aus war in dem neuen Leben fern von zu Hause, auf nächtliche Ausschweifungen, Drogen und Männer.

Erklärt aber war die Tat damit nicht, und das macht einen Teil der Faszination dieses Falles aus. In Perugia sei „das Böse an sich“, „das Dämonische“, ja „das Teuflische“ – sonst gut versteckt hinter ihrem Madonnengesicht – bei Amanda Knox zum Vorschein gekommen. Davon sind die Ankläger bis heute überzeugt.

Hass und Eifersucht, dazu Drogen und Alkohol, hätten in jener Nacht des 1.November alle Schranken fallen lassen, so ihre Theorie: Die Amerikanerin war die treibende Kraft in einem Sexspiel, bei dem Meredith Kercher nicht mitmachen wollte. Deshalb musste sie einen grausamen Tod sterben. Das Geschworenengericht fand nach langem Ringen die Rekonstruktion der Tat plausibel. Danach hatten Sollecito und Knox an jenem 1.November 2007 gegen 21Uhr dessen Wohnung verlassen. Sie wissen nicht recht, wie sie den Abend verbringen wollen, treffen unterwegs Rudy Guede. Knox kennt ihn flüchtig und lädt ihn ein, mit in ihr Haus zu kommen. Sie hat ein Küchenmesser von Sollecito in der Tasche, weil er sich um ihre Sicherheit sorgt, wenn sie nachts allein unterwegs ist.

In ihrer Wohnung im Obergeschoß des Hauses hat Knox mit Sollecito Sex, während der alkoholisierte Guede über Kercher herfällt. Die junge Britin wehrt sich, Sollecito und Knox kommen im Marihuana-Rausch dazu. Knox will Kercher zwingen mitzumachen, es kommt zu einer Orgie von Gewalt. Meredith Kercher stirbt schließlich an dem tiefen Schnitt an der Kehle, den ihr ihre Mitbewohnerin zugefügt hat. Sollecito und Knox reinigen den Tatort notdürftig, Guede ist längst geflohen. Dann verlassen auch sie das Haus, das Küchenmesser nehmen sie wieder mit.

Justiz am Pranger. Staatsanwalt Giuliano Mignini ist auch vier Jahre später sicher, dass sich alles so abgespielt hat. Wer bei seinem mehrstündigen Plädoyer zuhört, der bekommt großes Theater geboten, der sieht einen Mann, der die Kunst der Rhetorik meisterhaft beherrscht. „Jeder von uns hat eine dunkle Seite, es wäre falsch zu glauben, dass jemand nicht eines Mordes fähig ist, nur weil er unschuldig aussieht“, beschwört er. Mignini, das weiß man, ist kein Mann, der Skrupel kennt. „Unser italienisches Justizsystem ist Opfer einer gezielten journalistischen und politischen Kampagne“, tobt er. Da lächeln selbst italienische Kollegen auf den Zuschauerbänken.

Sucht da ein Staatsanwalt wirklich nach der Wahrheit? Oder steht da ein Jurist, der kürzlich sogar wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden ist und aus dem Mord in Perugia den Fall seines Lebens gemacht hat? Sollte Italiens prominenteste Gefangene tatsächlich freigesprochen werden, würde Migninis Karriere mit Schmach enden – auch wenn Urteile in Italien erst nach der dritten Instanz rechtskräftig sind. Es spricht einiges dafür, dass es dazu tatsächlich kommen könnte. Denn die Beweise für seine Theorie fehlen ebenso wie ein überzeugendes Motiv. Knox und Sollecito wurden aufgrund von Indizien verurteilt, beide bestreiten die Tat bis heute. Weder am Tatort noch auf der Tatwaffe ließen sich eindeutige Spuren der beiden nachweisen.

Im Berufungsverfahren wurde die Anklage mit so schweren Vorwürfen konfrontiert, dass auch die öffentliche Meinung gekippt ist. In einem neuen Gutachten ist von Schlampereien die Rede. So sollen DNA-Spuren kontaminiert worden sein, die Schnalle von Kerchers BH, die eine zentrale Rolle in der Beweisführung spielt, wurde sogar erst 47 Tage nach dem Mord sichergestellt.

Allerdings liegt auch über Knox ein schwerer Schatten. Die damals 20-jährige Studentin und ihr neuer Freund verwickelten sich nach der Tat in massive Widersprüche, und sie haben kein überprüfbares Alibi. Schwer wiegt auch, dass Knox anfangs den aus dem Kongo stammenden Barbesitzer Diya Patrick Lumumba, bei dem sie gelegentlich arbeitete, der Tat beschuldigt hat. Er kam dafür zwei Wochen in Untersuchungshaft. Andererseits wandte die Polizei anfangs gegenüber Knox eher zweifelhafte Verhörpraktiken an.


Medienscheue Kerchers.
Es gibt da aber noch eine Familie, deren Leben zerstört ist. Die Kerchers sind dem Berufungsverfahren bisher fern geblieben und haben, anders als die Familie von Knox, seit dem Tod ihrer Tochter kaum Interviews gegeben. Erst jetzt, wenige Tage vor der Entscheidung, ist Meredith' Schwester Stephanie unter Tränen in einer Talkshow aufgetreten. „Es geht immer nur um Raffaele und Amanda“, sagt sie. Das Schicksal ihrer Schwester sei völlig vergessen worden.

Wenige Tage zuvor hat sie an die italienische Justiz einen Brief geschrieben und gefragt, wie es denn möglich sein könne, dass 10.000 Seiten Ermittlungsakten nur durch ein einziges neues Gutachten infrage gestellt würden. „Es gibt keinen einzigen Tag mehr im Leben, an dem wir auch nur ein kleines bisschen Frieden haben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2011)

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