Ein dicker Strich, der das Leben bestimmt

Geteilte Stadt. Quer durch die Bibliothek von Stanstead verläuft die Grenze zwischen Kanada und den USA.

STANSTEAD. Den Begriff "Niemandsland" scheut Nancy Rumery. "Wir gehören zu beiden Ländern und zu keinem", sagt sie. Nancy Rumery ist Bibliothekarin der "Haskell Free Library" von Stanstead im kanadischen Qu©bec - oder auch von Derby Line im US-amerikanischen Vermont. Je nachdem, von wo aus man es sieht. Denn die Bibliothek ist weltweit wohl einmalig: Mitten durch den Lesesaal und die Bücherschränke verläuft die Grenze.

Ein Teil der Haskell-Bibliothek, 1901 als Symbol der Freundschaft zwischen den Nachbarstaaten errichtet, liegt in der kanadischen Provinz Qu©bec, ein Teil im US-Staat Vermont. Ein schwarzer Strich auf dem Parkettboden markiert die Grenze.

Jeff und Anne Miller aus Boston haben das Wochenende für einen Ausflug nach Vermont genutzt. Nun sitzen sie im Lesesaal, Jeff in den USA, Anne in Kanada. Für die beiden US-Bürger ist die Bibliothek "ein Beispiel für die relativ harmonischen Beziehungen zwischen beiden Staaten".

Die Einschränkung "relativ" ist angebracht: Seit 9/11 geht in den USA das Schreckgespenst um, dass Terroristen über Kanada einreisen könnten. Die USA fordern daher, die tausende Kilometer lange Grenze stärker zu kontrollieren. Eine neue Ausweispflicht, die demnächst eingeführt werden soll, wird die derzeit relativ unbeschwerte Reisetätigkeit zwischen den beiden Staaten erschweren.

In der Canusa Avenue verläuft die Grenze entlang der Fahrbahnmitte. Auf einer Seite wohnen Amerikaner, auf der anderen Kanadier. Eigentlich müssten sie sich beim Zoll melden, bevor sie zum Schwätzchen mit dem Nachbarn die Straße überqueren. Der Eingang zur Bibliothek liegt auf US-Gebiet in der Vermont-Gemeinde Derby Line, die Mehrzahl der Bücher steht in dem Gebäudeteil, der zur kanadischen Gemeinde Stanstead gehört. Kanadier können nur über US-Hoheitsgebiet die Bibliothek betreten.

Aufpassen muss, wer mit dem Auto kommt. "Wer das Auto auf kanadischer Seite stehen lässt und direkt in die Bibliothek geht, muss sich nicht beim Zoll melden", erklärt Nancy Rumery. Umgekehrt haben US-Bürger in der Bibliothek ungehinderten Zugang zu den Büchern auf kanadischer Seite. Wer aber meint, den Besuch der Bibliothek mit einer unangemeldeten Auslandsvisite verbinden zu können, täuscht sich. Im Extremfall können deftige Geldstrafen verhängt werden.

Die Folgen von 9/11 sind in Stanstead/Derby Line spürbar: Kameras waren schon in den 70-er Jahren an Straßenlaternen installiert worden, doch seit 2001 wird von der Grenzstation aus genau beobachtet, was sich in der Bibliothek tut. "Früher ging es viel entspannter zu", meint Rumery. Dass man genau aufpassen muss, wohin man tritt, liegt auch an US-Polizisten, die früher an der Grenze zu Mexiko Dienst schoben und hartes Durchgreifen gewohnt waren.

"Ich wuchs mit der Bibliothek auf", sagt die Kanadierin Diane French. "Als wir Kinder waren, gab es keine Grenzmarkierung im Gebäude. Wir wussten, ein Teil war in Kanada, der andere in den USA. Mehr nicht." Was damals selbstverständlich war, ist heute angesichts der Debatten um schärfere Grenzkontrollen eine Attraktion.

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