Unkontaktiertes Volk: Die letzten "Wilden"

letzten Wilden
letzten Wilden(c) AP (ERALDO PERES)
  • Drucken

Sie leben halb nackt in dichten Wäldern, völlig abgeschieden vom Rest der Welt. Jüngst wurde in Paraguay wieder ein unkontaktiertes Volk entdeckt. Für die Indianer ist das Ende der Isolation lebensgefährlich.

Als zu Beginn des vergangenen Jahres ein Flugzeug der brasilianischen Behörde für indigene Angelegenheiten (Funai) ein dicht bewaldetes Amazonasgebiet überflog, kam es zu einem außergewöhnlichen Zusammenstoß zweier Kulturen. In der Luft die Beamten, am Boden die halb nackten Angehörigen eines Eingeborenenvolkes, die wohl zum ersten Mal überhaupt ein Flugzeug sahen. Erschrocken starrten sie nach oben, ungläubig auf das rätselhafte Ding über ihren Köpfen zeigend, einige schossen Pfeile darauf ab.

Die vom Flugzeug aus gemachten Aufnahmen gingen um den Globus – und riefen der Weltöffentlichkeit die Existenz sogenannter „unkontaktierter Völker“ in Erinnerung. Für die einen sind deren Angehörige schlicht „Nackte“ oder „Wilde“, andere verehren sie als „Freie“ oder „Mutige“, oder betrachten sie romantisierend als „Steinzeitmenschen“, die den Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation widerstehen. In Wirklichkeit ist die Isolation der unkontaktierten Indianer nichts anderes als eine Überlebensstrategie.

Wie viele außerhalb der modernen Zivilisation lebende indigene Gruppen es noch gibt, weiß man nicht genau – Schätzungen zufolge sind es rund 200. Die meisten leben in dicht bewaldeten Gebieten Lateinamerikas sowie in Neuguinea. Laut der internationalen Organisation Survival beheimatet das Javari-Tal im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet am meisten unkontaktierte Indianer weltweit – Schätzungen zufolge rund 2000 Personen. Insgesamt dürften in Brasilien etwa 70 Gruppen leben, davon mindestens 15 allein im Bundesstaat Amazonas. Im ganzen Land sind ihnen sieben Reservate vorbehalten.

Einige Gruppen sind noch überhaupt nie mit der modernen Zivilisation in Kontakt gekommen, andere haben in der Vergangenheit derart verheerende Erfahrungen mit der Außenwelt gemacht, dass sie sich freiwillig in die Isolation des Urwaldes zurückgezogen haben und in Ruhe gelassen werden möchten. Weil das Immunsystem der Ureinwohner gegen alltägliche Krankheiten wie Grippe oder Masern keine oder nur schwache Abwehrkräfte besitzt, sind bei früheren Kontakten oft zwischen 30 und 90 Prozent der Stammesangehörigen gestorben.

Böser Zauber. Anthropologen zufolge haben die Seuchen das traditionelle Weltbild der wenigen Überlebenden ins Wanken gebracht. Wahrscheinlich deuteten sie das schnelle und massenweise Sterben ihres Volkes als einen bösen Zauber, oder sie schrieben es eigenen Verfehlungen zu, welche die Götter erzürnt hatten.

„Unkontaktierte Indianer sind zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt“, sagt Fabricio Amorim, ein Verantwortlicher für die Überwachungs- und Erkundungsflüge der brasilianischen Indianerbehörde Funai. „Illegale Fischerei, Jagd, Abholzung, Brandrodung, Bergbau, Viehzucht, Erdgas- und Erdölförderprojekte transnationaler Unternehmen, die Aktivitäten von Goldsuchern und Drogenhändlern.“ Unter dem Druck internationaler Organisationen hat sich zwar bei lateinamerikanischen Regierungen das Bewusstsein um die gefährdeten Volksgruppen verbessert. Aber die dicht bewaldeten, entlegenen und großflächigen Amazonasgebiete, in denen die unkontaktierten Völker leben, wirksam und dauerhaft vor Eindringlingen zu schützen, ist nahezu unmöglich.

Im vergangenen August muss es zwischen Drogenschmugglern und Ureinwohnern im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet zu einem Zusammenstoß gekommen sein, der für die Indianer möglicherweise tödlich endete. Zunächst überfielen die Kriminellen einen Wachtposten der Funai. Den Angestellten gelang die Flucht, doch fanden sie später einen Rucksack mit Kokain sowie einen Pfeil. Die Indianer indessen waren verschwunden, ihr Schicksal blieb ungeklärt.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Weltbank kommt zum Schluss, dass Naturschutzgebiete, in denen Eingeborene leben, besser gegen Abholzung und Waldbrände geschützt sind als unbewohnte Reservate – möglicherweise, weil die Holzfäller vor den mit Pfeil und Bogen bewaffneten Indianern doch einen gewissen Respekt haben. Dem Wissenschaftler Daniel Nepstadt zufolge ist indigenes Land „die derzeit wichtigste Hürde bei der Abholzung des Amazonas-Regenwaldes.“

Im Manú-Nationalpark in Peru haben illegales Holzfällen sowie Erdöl- und Gasförderprojekte den Lebensraum der Masco-Piro-Indianer eingeschränkt und sie aus dem Wald an ein Flussufer getrieben, wo sie von Touristen gesichtet wurden. Einige Reisende legten am Flussufer Kleider aus, um die Ureinwohner anzulocken – eine Gedankenlosigkeit, da Krankheitserreger auch durch die Berührung von Kleidern übertragen werden können.


Menschensafaris. Außerdem berichtete die britische Zeitung „Observer“ von Reiseveranstaltern, die Menschensafaris angeboten hätten: Touren durch den Nationalpark, bei denen mit einigem Glück unkontaktierte Ureinwohner zu sehen und zu fotografieren seien. Um die Eindringlinge zu warnen, beschossen darauf die Indianer einen Parkwächter mit einem Pfeil – allerdings brachen sie zuvor dessen Spitze ab.

Die neuste Entdeckung eines bisher isolierten Stammes vermeldet die Indianerbehörde in Paraguay. Auf einer Ranch im Chaco – dem sich südlich des Amazonasbeckens ausdehnenden Buschwald – leben offensichtlich Angehörige des Ayoreo-Stammes. Indizien für ihre Anwesenheit sind Fußabdrücke, Fanggruben für Landschildkröten und abgebrochene Zweige. Die Ranch gehört einem brasilianischen Viehzucht-Unternehmen. Satellitenfotos beweisen, dass in dem Gebiet illegalerweise 4000 Hektar Wald abgeholzt worden sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.