Endstation Westbahnhof

Seit die Züge in die große, weite Welt – oder zumindest nach Hamburg, Zürich oder Budapest – nicht mehr vom Westbahnhof abfahren, gleicht dieser oft einem Ort der Gestrandeten aus aller Welt.
Seit die Züge in die große, weite Welt – oder zumindest nach Hamburg, Zürich oder Budapest – nicht mehr vom Westbahnhof abfahren, gleicht dieser oft einem Ort der Gestrandeten aus aller Welt.Die Presse
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Seit der Fernverkehr weg ist, wird der Westbahnhof zunehmend zu einer Problemzone. Von Drogen, Gestrandeten aus aller Welt und schlechter laufenden Geschäften.

Als die blonde Frau, vielleicht 20, von der Rolltreppe steigt, sich der junge Afrikaner schnell von der Seite nähert, sie schnappt, „Alles gut?“ fragt und mit dem Arm um ihren Nacken wegzieht, erschrecken die Passanten ringsum – das Mädchen aber nicht. Geht man ihnen nach, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist, sieht man den Grund. Sie gehen zu einer Bank auf dem Gleis der U6 (zwei weitere Männer afrikanischer Herkunft sind in einigen Metern Abstand, einer davor, einer dahinter, postiert), er streicht der Frau durchs Haar, sie kramt in ihrer Tasche, dann werden Geldschein und ein Briefchen ausgetauscht, die Szenerie löst sich auf.

Westbahnhof, abendliche Rushhour. Vor dem Gebäude streiten sich zwei Bettlerinnen, drinnen, vor dem Merkur, wird ein Betrunkener, der Sprache nach Osteuropäer, von fünf Securitys weggeführt. Auf dem Europaplatz richten sich Obdachlose langsam für eine Nacht, die sie in den nahen Grünflächen verbringen wollen.

Nicht, dass der Westbahnhof – wie jeder größere Bahnhof – je ein beschaulicher Ort gewesen wäre. Aber seit Dezember, seit die ÖBB den Fernverkehr zum Hauptbahnhof verlegt haben, fallen jene Menschen, die man etwa bei der Polizei Bahnhofsklientel nennt, mehr auf. „Natürlich ist es jetzt anders. Schauen Sie sich um! Die Geschäfte sind teilweise leer, es sind ja weniger Fahrgäste da“, sagt etwa eine Verkäuferin im Einkaufszentrum. Von den ÖBB heißt es, auch heute fahren noch 200 Züge täglich vom Westbahnhof ab oder kommen dort an. Nur 40 weniger als zuvor. Viele Kunden seien ohnehin Anrainer, nicht Fahrgäste. Die Sorge um die Geschäfte teile man nicht. „Es geht schon zu, vor allem am Abend“, sagt ein Bahnhofsmitarbeiter.

Die ÖBB haben das Personal aufgestockt, die patroullierenden Teams, teils mit Hunden, sind überall zu sehen. Man reagiere auf das „steigende subjektive Sicherheitsbedürfnis der Fahrgäste“, so ein ÖBB-Sprecher. 2015 wurde die Zahl der Sicherheitsmitarbeiter auf Bahnhöfen um 100 auf 385 aufgestockt. Heuer sollen noch 150 dazukommen. Auch bei den Wiener Linien rangiert der Westbahnhof in einer Liste unrühmlicher Orte. Derzeit läuft eine sogenannte Randgruppen-Erhebung in U-Bahn-Stationen. Mitarbeiter sollen Beobachtungen von Randgruppen, Obdachlosen, Alkoholikern und Punks oder Bettlern protokollieren. Besonders werden Praterstern, Handelskai, Josefstädter Straße und eben Westbahnhof angeschaut. Die Ergebnisse sollen helfen, die Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern zu verbessern.

Praterstern, Handelskai, Westbahnhof? Und sie könnten helfen, den subjektiven Eindruck der vergangenen Monate zu überprüfen. Herrscht doch in Bezug auf Bahnhöfe Alarmstimmung, jeder Zwischenfall sorgt für Schlagzeilen: Vergangene Woche eine Schlägerei zwischen Männern nordafrikanischer Herkunft, kurz zuvor eine Messerstecherei, auch im Februar berichtete der Boulevard von Schlägereien. „Kleinere Auseinandersetzungen, nichts Dramatisches“, heißt es dazu von der Polizei. Wie das auf Bahnhöfen immer wieder vorkommt. Statistisch habe sich nichts signifikant verändert. Nur ein Plus bei Ladendiebstählen und (naheliegend, ohne Fernverkehr) weniger Gepäcksdiebstähle. Mit den Flüchtlingen habe das aber nichts zu tun. Für Flüchtlinge ist der Westbahnhof heute ein Treffpunkt. Sie sitzen in Gruppen in den Aufenthaltsbereichen im oberen Geschoß, nutzen das freie WLAN. „Wir treffen uns immer hier“, sagt Shahnaz, 21, aus Afghanistan, der mit Freunden auf dem Bahnsteig steht und raucht. Er lebt in einer nahen Flüchtlingsunterkunft, wartet sein Verfahren ab. Ein anderer erzählt, er habe im Herbst einige Zeit überhaupt auf dem Bahnhof gelebt.

Neulengbach, St. Pölten, Tullnerbach – die Destinationen der Züge, die heute abfahren, sind kein Ziel mehr. Die Caritas hat ihr Tageszentrum kürzlich geschlossen, auch das Blaue Haus wird nicht mehr als Notunterkunft genutzt. Jetzt drehen Sicherheitsleute in den verlassenen Winkeln, die lang Zentrum der Flüchtlingshilfe waren, ihre Runden. „Die Welcome-Klatscher san weg“, sagt ein Wachmann, grinst. „Um die Refugees kümmern uns jetzt wir. Als Rausschmeißer.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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