Soko Brunnenmarkt: "Viele wussten etwas, keiner hatte den Überblick"

Tatort am Brunnenmarkt
Tatort am Brunnenmarkt(c) APA/HERBERT P. OCZERET (HERBERT P. OCZERET)
  • Drucken

Das von Justizminister Brandstetter eingerichtete Gremium legte am Dienstag den Abschlussbericht vor. Er bestätigte die großen Defizite bei der behördeninternen Kommunikation. Die Soko fordert nun klare Verantwortlichkeiten.

Es ist bereit über ein Jahr her: Im Mai 2016 hat ein psychisch kranker, vorbestrafter und von der Justiz zur Aufenthaltsermittlung ausgeschriebener Täter am Wiener Brunnenmarkt eine 54-jährige Frau auf dem Weg zu ihrer Arbeit mit einer elfeineinhalb Kilogramm schweren Eisenstange erschlagen. Eine von Justizminister Wolfgang Brandstetter
eingerichtete Soko hat den Fall evaluiert, am Dienstag wurden die
Erkenntnisse präsentiert.

"Es wurde nicht das Falsche getan, sondern das Richtige
unterlassen", bilanzierte Soko-Vorsitzender Helfried Haas bei einem
Pressegespräch im Justizpalast. Der mittlerweile 22-jährige Täter -
er wurde im November von einem Schwurgericht aufgrund seiner
hochgradigen paranoiden Schizophrenie als nicht zurechnungsfähig
eingestuft und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher
eingewiesen - war im Mai 2008 von Kenia nach Wien gekommen. Im
Herbst 2010 trat er erstmals strafrechtlich in Erscheinung, im Juni
2011 wurde er nach dem Suchtmittelgesetz verurteilt.

Versäumnis: Keine Bewährungshilfe angeordnet

Obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits obdachlos war, jeglichen Kontakt mit seiner Familie und Behörden verweigerte und schlechte Deutschkenntnisse hatte, wurde in Verbindung mit der über ihn verhängten Bewährungsstrafe keine Bewährungshilfe angeordnet. Die Soko stuft dies als Versäumnis ein und empfiehlt, dass gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenssituationen von diesem Instrument Gebrauch gemacht wird.

2011 wurde der Mann auch zum ersten Mal in U-Haft genommen. In
der Justizanstalt verhielt er sich psychisch auffällig und aggressiv
und wurde - wenn auch nur für Vollzugszwecke - untersucht. Schon
damals wurde in den medizinischen Unterlagen der Verdacht auf eine
wahnhafte Störung festgehalten. Diese Information ging aber weder an
die Staatsanwaltschaft noch ans Gericht, weshalb sich für die Justiz
die Frage einer möglichen Zurechnungsunfähigkeit, die zur Beiziehung
eines psychiatrischen Sachverständigen geführt hätte, nicht stellte.
Dafür wurde der Jugendgerichtshilfe die Diagnose bekannt, die diese
Information aber nicht dem Gericht meldete. Sie gab sie nur dem
Kinder- und Jugendhilfeträger weiter, als der noch minderjährige
Kenianer ohne Wohnadresse aus der Haft entlassen wurde.

Mangelnde Kommunikation unter Behörden

"Viele Institutionen wussten ein bisschen etwas, keiner hatte den
Überblick", fasste Haas die evidenten Defizite bei der behördlichen
Vernetzung zusammen, die dem Ergreifen bzw. Koordinieren nötiger
Maßnahmen im Weg standen. Das Ergebnis der von der Justizanstalt
veranlassten psychologischen Untersuchung des Kenianers wurde aus
Datenschutzgründen nicht einmal der Chefärztin der Generaldirektion
für den Strafvollzug bekannt. Vermeintliche gesetzliche
Verschwiegenheitspflichten dürften nicht dazu führen, dass den
Justizbehörden relevante diagnostische Informationen vorenthalten
werden, hält die Soko in ihrem Abschlussbericht fest. Im
Zusammenhang damit tritt Soko-Leiter Haas für "klare legistische
Regelungen" ein, "damit Behörden in Zukunft beim Austauschen von
Informationen nicht an einer Verletzung des Amtsgeheimnisses oder
Berufsgeheimnisses vorbeischrammen", wie er vor Medienvertretern
darlegte.

Polizeiamtsärzte sollen besser geschult werden

Im Herbst 2013 wurde der Kenianer ein zweites Mal verurteilt,
ohne dass ihm ein Bewährungshelfer beigegeben wurde. Dabei wies die
Jugendgerichtshilfe diesmal das Gericht explizit darauf hin, dass
der Mann "sehr Verwirrendes" von sich gebe. Obwohl eine psychotische
Störung laut Soko mittlerweile offensichtlich war, wurde der
Kenianer erneut in die Obdachlosigkeit entlassen. Einem
Polizeiamtsarzt wiederum fiel der Zustand des jungen Mannes im Zuge
einer Untersuchung nicht auf - in seinem Befund war keine Rede von
einer möglichen psychischen Erkrankung. Auf Vorschlag der Soko
sollen ab kommendem Oktober Polizeiamtsärzte im Erkennen psychischer
Auffälligkeiten geschult werden, um auf Betroffene nach dem
Unterbringungsgesetz reagieren zu können.

Auch Polizeibeamte, denen im Rahmen ihrer Grundausbildung in
sechs bis sieben Stunden das Unterbringungsgesetz nahe gebracht
wird, sollen zukünftig umfassender in die ihnen unmittelbar zur
Verfügung stehende gesetzliche Handhabe bei Amtshandlungen mit
psychisch Kranken eingeweiht werden. Am 18. März 2016 - und damit
nur sechs Wochen vor der Bluttat am Brunnenmarkt - war der Kenianer
Polizisten aufgefallen, als er sich mit heruntergelassenen Hosen und
mit Axt und Hammer bewaffnet vor ihnen zu verstecken versuchte.
Gegen den Verhaltensauffälligen wurde nicht nach dem
Unterbringungsgesetz, sondern nach dem Fremdenpolizeigesetz
vorgegangen.

Spätestens im Frühjahr 2015 hatte sich die Situation weiter
zugespitzt, nachdem der Kenianer zwei Frauen mit Eisenstangen
angegriffen und die beiden zum Glück nur leicht verletzt hatte.
Obwohl bei Gericht gegen den Mann nach im vorangegangenen Herbst
begangenen Ladendiebstählen eine weitere Hauptverhandlung anhängig
war, war er aus Sicht der Justiz mangels einer Meldeadresse nicht
mehr greifbar. Der vermeintlich von der Bildfläche Verschwundene
wurde daher zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Dass er
keineswegs untergetaucht war, sondern am Brunnenmarkt regelmäßig als
Störenfried in Erscheinung trat, sprach sich nicht bis zur Justiz
durch. Dabei hatte die Polizeiinspektion am Brunnenmarkt -
hauptsächlich aufgrund von Anrainerbeschwerden - regelmäßig mit dem
Kenianer zu tun.

Soko fordert "klare Verantwortlichkeiten"

Damit es zu vergleichbaren Fällen nicht mehr kommt, fordert die
Soko in ihrem Bericht "klare Verantwortlichkeiten ohne
Kompetenzvakuum". Fallkonferenzen von Justiz und Polizei befinden
sich im Versuchsstadium, die Sensibilität bei den Justiz- und
Polizeiorganen soll sich - schenkt man dem Abschlussbericht der Soko
Glauben - mittlerweile erhöht haben.

Für die erschlagene 54-Jährige und ihre Angehörigen kommt das zu
spät. "Es ist erschreckend zu erfahren, wie schlecht die Behörden
vernetzt sind", reagierten die Rechtsanwälte Mathias Burger und
Alfred Boran, die den Witwer vertreten, auf den
Soko-Abschlussbericht. Dass Polizeidienststellen in der Regel gar
nicht Kenntnis von Ermittlungen anderer Dienststellen erlangen, "ist
in einem modernen Rechtsstaat wie Österreich nicht nachvollziehbar",
gab Burger zu bedenken. Burger geht davon aus, dass der laxe behördliche Umgang mit dem paranoid schizophrenen
Kenianer kein Einzelfall ist: "Es ist zu befürchten, dass es in
diesem Bereich noch viele schlafende Hunde gibt. Man kann nur
hoffen, dass die nicht wieder mit einer Gewalttat geweckt werden."

(APA)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.