Sexueller Missbrauch: "Vorwürfe sind in diesem Ausmaß nicht vorstellbar"

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Vorwürfe zweier ehemaliger Zöglinge des Kinderheimes am Schloss Wilhelminenberg gegen Erzieher werden von externer Kommission überprüft. Konkret soll untersucht werden, ob Vorwürfe „den Tatsachen entsprechen“.

Wien. Nachdem zwei ehemalige Zöglinge des Kinderheimes am Schloss Wilhelminenberg schwerste Missbrauchsvorwürfe gegen Erzieher der Anstalt erhoben haben, werden die Anschuldigungen nun von einer externen Untersuchungskommission unter die Lupe genommen. Das gab am Montag der Leiter des Wiener Jugendamtes (MA11), Johannes Köhler, bekannt.

Konkret soll untersucht werden, ob die erhobenen Vorwürfe „den Tatsachen entsprechen“. Zwei Frauen hatten unter anderem von Kinderprostitution und Serienvergewaltigungen berichtet – und das über einen längeren Zeitraum. Aus diesem Grund werde derzeit ein pensionierter Richter oder Staatsanwalt gesucht, der als Leiter der Kommission fungieren soll, sagte Köhler vor Journalisten. Die Ergebnisse sollen in einem Abschlussbericht zusammengefasst werden. Die betroffene Anstalt wurde im Jahr 1977 aufgelassen. Den beiden nun klagenden Schwestern wurden bereits je 35.000 Euro Entschädigung und die Übernahme von Therapiekosten angeboten. Ihr Anwalt fordert aber deutlich mehr Geld.

„Wir sind bestürzt und erschüttert über die Vorwürfe“, bekundete Köhler. „Wenn die Anschuldigungen stimmen, müssen sämtliche Heimbedienstete unter einer Decke gesteckt haben, das käme einer kriminellen Organisation gleich.“ Gleichzeitig betonte der Abteilungsleiter, dass Missbrauch in einem solchen Ausmaß schwer nachvollziehbar sei. Nicht zuletzt, weil in dem Heim bis zu seiner Schließung 1977 ausschließlich weibliche Erzieher tätig gewesen seien. Aber: „Ausschließen kann man die beschriebenen Vorgänge natürlich dennoch nicht.“

„Mädchen hätten Signale ausgesandt“

Auch Sozialpädagoge Hans Feigelfeld hält die Vorwürfe der beiden Frauen „in dieser Dimension für nicht vorstellbar“. Feigelfeld war in den Jahren der möglichen Übergriffe in einem Seitentrakt des Schlosses Wilhelminenberg tätig – als Leiter eines reformpädagogischen Projekts zum Thema antiautoritäre Erziehung von Kindern. Eine Verbindung zum Heim bestand nicht. „Die Vorstellung, dass über Jahre hinweg bis zu 20 Mädchen in Gruppen von mehreren Männern vergewaltigt wurden, ohne dass das auch nur von einem der betroffenen Mädchen gemeldet wurde, übersteigt meine Fantasie“, so der Zeitzeuge. „Denn auch wenn Kinder nicht über Missbrauch sprechen, Signale wie etwa Essstörungen senden sie immer aus.“

Erzieherinnen haben nichts bemerkt

Unterdessen meldeten sich zwei Erzieherinnen, die in den frühen 70er-Jahren im betroffenen Kinderheim tätig waren. Gegenüber der APA gaben sie an, keine sexuellen Übergriffe auf Heimkinder bemerkt zu haben. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte die heute 72-jährige Schwester Gerti. „Ich war aber entsetzt über die militanten Erziehungsmethoden dort. Zweierreihen und gemachte Betten waren wichtiger als das Kind.“

Auch ihre damalige Kollegin, Schwester Anni, habe von sexuellem Missbrauch nichts mitbekommen. Aber: „Die Häuser wurden autoritär geführt, ja, Gewalt hat es gegeben.“ Besonders zwei Erzieherinnen wurden von den beiden als „Ausnahmeerzieherinnen“ bezeichnet. Sie hätten schon eine „Tachtel“ verteilt oder die Hausschuhe nach Kindern geschmissen. Sexuelle Übergriffe hätten die Erzieherinnen Anni und Gerti jedoch sofort gemeldet, versicherten sie.

Den Vorwürfen der beiden ehemaligen Zöglinge kann Schwester Gerti keinen Glauben schenken. Was die beiden erzählen, sei auch akustisch nicht möglich. Die Frauen hatten angegeben, dass sie bei den Übergriffen laut geschrien hätten. „Das Schloss ist extrem hellhörig, da hat man sogar das Lachen von Gästen im nahe gelegenen Heurigen gehört. Da hätte man die Schreie durch Vergewaltigungen auch mitbekommen.“

Die Missbrauchsvorwürfe dürften übrigens verjährt sein. Da die Anstalt 1977 aufgelassen wurde, greift das Strafgesetzbuch in diesen Fällen von sexueller Gewalt nicht mehr. Eine Ausweitung der Verjährungsfristen ist für Justizministerin Beatrix Karl (V) derzeit dennoch kein Thema (siehe Seite1).

Auf einen Blick

Wilhelminenberg. Einst war das Schloss ein Kinderheim, heute ist es ein nobles Viersternehotel. In den 70er-Jahren soll es dort zu Serienvergewaltigungen von Zöglingen gekommen sein. 1977 wurde das Heim geschlossen. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2011)

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