Russische Justiz: Das Recht geht vom Kreml aus

Russland Recht geht Kreml
Russland Recht geht Kreml(c) REUTERS (DAVID W CERNY)
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Richterin Syrowa beging im Prozess gegen die Band Pussy Riot auffallend viele Verfahrensfehler. Offenbar wollte sich Putin eine Hintertür für eine Urteilsaufhebung offenhalten. So läuft das in Russland.

Marina Syrowa gilt als sehr erfahrene Richterin. Mehr als 140 größere Fälle hat sie in ihrer Amtszeit bereits behandelt. Doch im Verfahren, in dem sie die Frauenpunkband Pussy Riot am Freitag in Moskau zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilte, beging Syrowa Dutzende Verfahrensfehler, ja sie verstieß offen gegen das Prozessrecht.

Wiederholt hatten etwa die Verteidiger der drei Angeklagten Beschwerde eingelegt. Doch die Richterin reagierte einfach nicht, auf keine der Eingaben der Verteidigung. Noch während der laufenden Verhandlung vermuteten Prozessbeobachter daher, die Richterin begehe die offensichtlichen Verfahrensfehler absichtlich. Dieser Verdacht erhärtet sich nach dem harten Urteil.

Für Menschen, die mit dem russischen Rechtssystem nicht vertraut sind, muss dies abenteuerlich klingen: Doch Richterin Syrowa hielt sich und ihrem Auftraggeber für alle Eventualitäten noch ein Hintertürchen offen. Wenn die politische Lage es verlangt, kann sich die Verteidigung im Berufungsverfahren auf die Verfahrensfehler stützen und das Gericht könnte den Schuldspruch aufheben oder eine mildere Strafe verhängen.

Der Auftrag des russischen Strafjustizwesens lautet nicht, die Wahrheit zu ermitteln. Wer als Verdächtiger in die Fänge der Justiz gerät, hat meist keine Chance, der Maschine zu entkommen. Mehr als 99 Prozent der Prozesse enden mit Schuldsprüchen. Nur 0,3 Prozent (!) der Angeklagten werden freigesprochen. Staatsanwaltschaft, Richter und Ermittler ziehen dabei an einem Strang: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, die Ermittler forschen nur in die vorgegebene Richtung und das Gericht sorgt dafür, dass entlastendes Material der Verteidigung nicht zur Verhandlung zugelassen wird.


Je mehr Schuldige, desto höhere Boni. Deshalb raten Anwälte ihren unschuldigen Klienten bereits im Voraus, eine Tat lieber zu gestehen und dadurch ein geringeres Strafmaß zu erhalten. Die Logik dieses Systems ist leicht zu durchschauen: Außer dem Angeklagten verdienen alle anderen Beteiligten an einem Schuldspruch. Je mehr Schuldige gefunden werden, desto höher fallen die Boni aus. Denn der Staat honoriert auf Grundlage der Statistik, und diese wird halt manipuliert, wenn sie nicht genügend abwirft.

Unabhängige Richter sind in Russland selten. Das gilt nicht nur für politische Verfahren – in solchen Prozessen gilt grundsätzlich das „Telefonrecht“. Dahinter verbirgt sich die kurze Leitung zum wahren Machtzentrum, von dem da und dann gewisse Anordnungen kommen. Was in Rechtsstaaten als Skandal gewertet würde, wird in Russland meist nur mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen.

Als etwa im zweiten Prozess gegen den beim Kreml in Ungnade gefallenen Ex-Milliardär Michail Chodorkowski eine Gerichtsangestellte ausplauderte, das Urteil sei nicht vom Richter verfasst, sondern in letzter Minute vor der Urteilsverlesung von außen fixfertig „zugestellt“ worden, blieb das für die Angeklagten folgenlos. Bereits 2004 beklagte sich die Moskauer Richterin Olga Kudeschkina öffentlich, dass Richter trotz vorhandener Gesetze nicht unabhängig entscheiden könnten. Schuld daran sei politische Einflussnahme. Kudeschkina hatte sich über eine einseitige Anklage der Staatsanwaltschaft gewundert, die nur in eine Richtung ermitteln wollte. Es ging um ein Wirtschaftsverbrechen.

Nach ihrer Beschwerde wurde sie von der Richterin einer höheren Instanz vorgeladen. Als Kudeschkina der Anweisung der Richterin nicht folgte, die wie der Staatsanwalt ein bestimmtes Interesse am Ausgang des Prozesses hatte, wurde sie abgesetzt. Sie zog vor den Europäischen Gerichtshof, der ihr recht gab. Russlands Justiz stellte sie aber einfach nicht mehr ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2012)

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