Die mutmaßlichen Attentäter waren Tschetschenen, doch sie selbst lebten nur kurze Zeit in der russischen Unruheregion. Der Krieg in ihrer Heimat könnte sie dennoch geprägt haben.
Wien/Grosny/Machatschkala. Und wieder ist der Nordkaukasus in den Schlagzeilen. Doch diesmal sind es nicht (wie üblich) bewaffnete Auseinandersetzungen auf russischem Boden zwischen Rebellen und Spezialeinheiten, sondern Anschläge auf amerikanischem Boden gegen Zivilisten. Die Erklärung des Sprechers des tschetschenischen Präsidenten, das Brüderpaar, das für den Bostoner Bombenanschlag verantwortlich sein soll, habe „keinerlei Beziehungen zu Tschetschenien“, stimmt daher irgendwie – und sie stimmt auch wieder nicht.
Die Distanzierung scheint einleuchtend, denn die beiden Beschuldigten haben nur kurze Zeit ihres Lebens im russischen Nordkaukasus verbracht: Sie dürften sich für ein Jahr in Dagestan aufgehalten haben; Tamerlan Tsarnaev gab in den USA an, tschetschenischer Flüchtling zu sein. Andererseits missglückt die Distanzierung aus Grosny, denn für die Tat könnte es ein Motiv geben, das mit dem jüngsten Nordkaukasus-Konflikt – sprich: mit den bewaffneten Auseinandersetzungen in Tschetschenien – zu tun hat.
Wie viele tausende Tschetschenen hat die Familie Reißaus genommen vor dem Krieg, der vor zehn Jahren im Nordkaukasus herrschte. In der Teilrepublik Tschetschenien – etwa so groß wie die Steiermark – kämpften tschetschenische Separatisten gegen russische Truppen. Diese konnten die Teilrepublik in zwei Kriegen (1994–1996 und 1999–2009) nicht vollkommen befrieden.
Zunächst waren die Tschetschenen eher säkular-nationalistisch orientiert. Präsident Aslan Maschadow hatte aber auch nach dem Abzug der Russen 1997 nicht die vollständige Gewalt über die Republik; er geriet zunehmend unter Druck von sich radikalisierenden Strömungen, die an der Idee eines islamistischen „Kaukasus-Emirats“ Gefallen gefunden hatten. Überfälle bewaffneter Gruppen auf Ziele außerhalb der Republik – etwa auf die Nachbarrepublik Dagestan – destabilisierten die Lage zusätzlich. Wladimir Putin rief zum zweiten Krieg, der für die Russen diesmal nicht mit einer Niederlage enden sollte.
Doch von einem eindeutigen Sieg kann auch im Jahr 2013 nicht die Rede sein: Noch immer kämpfen in den Bergen Rebellen unter der Führung verschiedener Feldkommandanten gegen russische Truppen.
Entführungen gehören zum Alltag
Tschetscheniens Nachbarrepublik Dagestan hat zwar keinen Krieg erlebt, aber die Sicherheitslage ist prekär. Die Teilrepublik, die im Osten an das Kaspische Meer grenzt, hat knapp drei Millionen Einwohner. Dagestan, in deren Hauptstadt Machatschkala die Familie Tsarnaev ein Jahr verbrachte, gilt als die gefährlichste Republik des Nordkaukasus: Beinahe tagtäglich kommt es zu Bombenanschlägen, Schießereien und Entführungen, die verschiedene Hintergründe haben. In der Republik sind ebenfalls bewaffnete Jihadisten unterwegs, doch nicht alle Gewalttaten gehen auf ihr Konto – auch Bandenkriminalität und gewaltsame Streitigkeiten um Landbesitz sind verbreitet.
In Dagestan wurden nach Angaben der Informationsseite „Kaukasischer Knoten“ im ersten Quartal 2013 bei bewaffneten Konflikten 67 Menschen getötet und 41 verwundet. Zum Vergleich: In Tschetschenien wurden im selben Zeitraum „nur“ 20 Menschen getötet und 17 verletzt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)