Bulgarien: Ein täglicher Überlebenskampf

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Die Arbeitslosen- und die Selbstmordraten steigen: Immer mehr Bulgaren haben Probleme, über die Runden zu kommen. Die Hoffnung auf bessere Zeiten haben sie verloren, und darauf, dass die Parlamentswahl Mitte Mai viel ändern wird.

Europas angebliches Wohlstandsbündnis endet gleich hinter dem letzten Wohnblock. Pferdegespanne mit Restmüllbergen holpern unweit der Metrostation Vardar über die Schlaglöcher im Sofioter Roma-Viertel „Fakulteta“. In der mit 35.000 Bewohnern zweitgrößten Roma-Siedlung Bulgariens gebe es „weder Kanalisation, noch anständige Toiletten oder Jobs“, klagt vor einem provisorischen Kiosk der hochgewachsene Vlatko. „Wir haben nicht einmal genug für Brot oder Windeln“, sagt seine abgehärmte Frau. Vor sieben, acht Jahren habe sie zum letzten Mal Arbeit gehabt: „Seitdem leben wir von der Hand in den Mund, dem Abfall – und 35 Lewa (17,50 Euro) pro Kind.“

Seit dem Ende des Sozialismus hat sich die Lage der bulgarischen Roma, die mit geschätzten 700.000 Menschen rund zehn Prozent der Bevölkerung stellen, rapide verschlechtert. Arbeitslosigkeit und Armut machen indes längst nicht mehr nur der größten Minderheit des EU-Schlusslichts zu schaffen. Jeder fünfte Bulgare gilt als arm und muss mit weniger als 120 Euro über die Runden kommen. Die Arbeitslosigkeit ist auf 18 Prozent geklettert, unter jungen Bulgaren ist fast jeder dritte ohne Job. Zahlen, die dem zurückgetretenen, sich jedoch bei der Parlamentswahl am 12. Mai um neues Mandat bemühenden Ex-Premier Bojko Borissow zu schaffen machen.

Der Anteil der Armen nehme zu, stellt auch der Sozialanthropologe Haralan Alexandrov fest. Selbst Landsleute, die für Minimallöhne von 150 bis 200 Euro beschäftigt seien, hätten Probleme, ihre Strom- und Heizungsrechnungen zu zahlen: „Die Einkommen schrumpfen, nur die Lebenshaltungskosten steigen.“ Auf das Mitgefühl besser gestellter Landsleute könnten Bulgariens Transformationsverlierer kaum zählen: „Wir haben eine primitive Form des Neoliberalismus übernommen, der nur Starken das Recht auf Überleben – und den Armen die Schuld an ihrer Situation gibt.“

Während chic gekleidete Damen lässig mit ihrer Einkaufsbeute an den Schaufenstern der Boutiquen am Sofioter Vitosa-Boulevard vorbeistöckeln, vertreiben resolute Kellnerinnen Obdachlose, die die Müßiggänger auf den Terrassen der Nobelcafés zu bedrängen suchen. Doch es sind keineswegs nur Arbeitslose, Pensionisten oder alleinerziehende Mütter, die sich dem alltäglichen Überlebenskampf kaum mehr gewachsen fühlen. Schon wenige Metrostationen vom Zentrum entfernt macht sich bei den Bewohnern der Vorstädte zunehmend Verzweiflung breit.


Abgefackelte Autos. Ratlos sortiert Schuhhändler Jordan am Pancho-Vladigerov-Boulevard in der Trabantensiedlung Ljulin die unverkäufliche Ware um. Seit eineinhalb Jahren sei der Umsatz eingebrochen, seufzt er müde: „Die Leute haben kein Geld mehr.“ Der geringe Gewinn werde durch Inflation, hohe Abgaben und Mieten aufgezehrt: „Erst reduziert man Personal, dann entlässt man den letzten Mitarbeiter – und am Ende sperrt man eben den Laden zu.“ Selbst der Pfandleiher an der Ecke verspürt längst keine Umsatzzuwächse mehr durch die Krise: „Die meisten haben längst alles versetzt, was sie hatten. Viele haben kaum mehr etwas, was sie noch anbieten könnten.“

Abgefackelte Autos und Straßenschlachten: Die Wucht der Proteste gegen zu hohe Stromrechnungen im Februar und März verblüffte nicht nur die Politiker, sondern auch die Weltöffentlichkeit. Für noch mehr Schlagzeilen sorgte die sprunghaft gestiegene Zahl von Selbstmorden – und eine aufsehenerregende Welle versuchter Selbstverbrennungen: Sieben von acht Menschen sind mittlerweile an den Folgen ihrer Verbrennungen gestorben. Aus Sorge vor dem Nachahmereffekt haben Bulgariens Medien die Berichterstattung darüber reduziert.

Je größer die Armut, desto größer die soziale Isolation, sagt Experte Alexandrov: „Wenn man Gästen keinen Kaffee mehr anbieten kann, geht man auch selbst nicht mehr auf Besuch.“


Hausgemachte Probleme. Ist der 2007 erfolgte Beitritt zur EU ein Misserfolg? Davon will Georgy Ganev nicht sprechen. In den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt habe das Land die höchsten Zuwachsraten in der EU aufgewiesen, so der Direktor des Zentrums für liberale Strategien in Sofia: 2007 habe der Zufluss ausländischen Kapitals mit 47 Prozent fast die Hälfte des BIPs betragen. Doch die Krise setzte Bulgariens kurzem Höhenflug ein jähes Ende.

„Das war nicht hausgemacht“, sagt Ganev. „Doch hausgemachte Probleme wie Korruption, Monopole und Bürokratie wurden wichtiger als zuvor.“ Vor allem die viel zu hohe Abgabenlast für kleine Unternehmen und das mangelhafte Erziehungssystem macht der Ökonom für die Probleme am Arbeitsmarkt und die sozialen Spannungen verantwortlich. Dem Eindruck, dass das EU-Schlusslicht weiter abgehängt werde, spricht er mit Verweis auf die Statistiken jedoch energisch entgegen. „Wir schmälern die Kluft. Wir sind zwar immer noch die Ärmsten in der EU, aber nicht mehr so arm wie zuvor.“

Doch die Segnungen der statistischen Aufholjagd bekommen immer mehr Menschen kaum zu spüren. Die einzige Investition im Roma-Viertel Fakulteta war vor drei Jahren der Bau von Betonpfeilern, auf denen in sechs Metern Höhe nun die Stromkästen thronen. Abzapfen ließe sich nichts mehr, berichtet mit Achselzucken eine Familienmutter: „Wenn du die gepfefferten Rechnungen nicht zahlen kannst, wird eben der Strom abgedreht.“

Hoffnung auf bessere Zeiten kann bei Bulgariens Armen auch die nahende Wahl nicht nähren. Früher hätten sich noch Wahlkämpfer hierher verirrt, sagt Vlatko: „Nun kommen sie nicht mehr. Sie haben letztes Mal zu viel versprochen – und nichts gehalten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2013)

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