Ein Jahr Mursi: Wie der Islamist Ägypten enttäuschte

Protesters light a poster of President Mohamed Mursi on fire in Tahrir square, Cairo
Protesters light a poster of President Mohamed Mursi on fire in Tahrir square, CairoREUTERS
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Von der Aufbruchsstimmung nach der ersten freien Präsidentschaftswahl 2012 ist kaum etwas übrig. Es herrschen Frust, Zukunftsangst und Ärger über den autoritären Stil des Muslimbruders Mursi.

Die Rede stand unter keinem guten Stern: Noch bevor Ägyptens Präsident Mohammed Mursi in der Nacht auf Donnerstag bei der zusehends wütenden Bevölkerung um Verständnis warb, waren bei Straßenschlachten zwei Menschen ums Leben gekommen. Gegner und Anhänger des Präsidenten waren in der nördlich von Kairo gelegenen Stadt Mansoura aufeinander losgegangen.

In seiner zweieinhalbstündigen Ansprache holte Mursi zum verbalen Schlag gegen die Vertreter des 2011 gestürzten Mubarak-Regimes aus: Diese Kräfte seien schuld an der Blockade des Landes. "Polarisierung und Konflikt haben ein Ausmaß erreicht, dass unser junges demokratisches Experiment bedroht ist und die Gefahr besteht, dass die ganze Nation in einem Zustand von Paralyse und Chaos versinkt", sagte der Präsident. Gleichzeitig ging Mursi aber ein wenig auf seine Gegner zu: "Unsere Hände sind ausgestreckt." Der Opposition reichte das freilich nicht, sie hält an ihrem Plan fest, am Sonntag eine Großdemonstration gegen Mursi abzuhalten.

Misstrauen vergiftet das Klima

Von der Aufbruchsstimmung, die seinen Amtsantritt vor einem Jahr begleitet hat, ist wenig übrig geblieben, Mursis großer Jubeltag scheint Lichtjahre vorbei zu sein. Die ganze Nation hing damals vor dem Fernseher, als er auf der Rednertribüne mit beiden Händen sein Jackett aufriss und der jubelnden Menge auf dem Tahrir-Platz seine breite Brust unter weißem Hemd darbot. "Seht her, ich habe keine Schutzweste, die brauche ich nicht, wenn ich mit meinem Volk zusammen bin." Tags darauf besiegelte der erste demokratisch gewählte Staatschef der ägyptischen Geschichte mit seiner Vereidigung offiziell das Ende der Militärregierung.

Am 30. Juni ist Mursi, Muslimbruder seit dem Studium, und gelernter Brückeningenieur, ein Jahr im Amt. "Ich werde dem gesamten Volk dienen", deklamierte er damals und schwor feierlich, er trete für einen zivilen Staat ein und plane keine "Islamisierung der staatlichen Institutionen". Den Kopten versprach er, er werde ein offenes Ohr für ihre Anliegen haben.

Die Euphorie ist verpufft

Ein Jahr danach ist von diesen hehren Absichten kaum noch etwas zu erkennen. Die postrevolutionäre Euphorie ist verpufft, in großen Teilen der Bevölkerung herrschen Frustration und Zukunftsangst. Wie fremde Heerscharen stehen einander die Lager von Islamisten und Säkularen gegenüber. Misstrauen und Verdächtigungen vergiften das Klima, während die Wirtschaft und die öffentliche Sicherheit dem Staatszerfall entgegenschlittern.

Dabei hatte Mursis Regierungsstil der autoritären Überraschungen anfangs auch bei seinen Gegnern anerkennendes Staunen ausgelöst. Mit einem Handstreich entmachtete er per Dekret den allgewaltigen Obersten Militärrat, schickte die Soldaten zurück in die Kasernen und Ewig-Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi in den gut dotierten Ruhestand. Beim Blockfreien-Gipfel in Teheran verblüffte der fromme Debütant mit seiner ungeschminkten Attacke auf das syrische Regime und dessen iranische Schutzpatrone.

Dickes Lob von Barack Obama

Nach dem Gaza-Waffenstillstand im letzten November sprach US-Präsident Barack Obama in höchsten Tönen von ihm. "Time Magazin" erklärte Mursi zum "wichtigsten Mann des Nahen Ostens". Doch als dieser wenig später auch noch die Judikative ausschalten wollte, gingen die Bürger auf die Barrikaden. Der Islamist an der Staatsspitze verschaffe sich diktatorische Vollmachten und gebärdete sich wie ein neuer Pharao, schlimmer als Mubarak, wetterten die Oppositionsparteien.

Im Gegenzug wies Mursi die Zweidrittelmehrheit aus Muslimbrüdern und Salafisten in der verfassunggebenden Versammlung an, die 211 Artikel in einer Nacht- und Nebelaktion durchzuwinken. Wochenlange Straßenkämpfe folgten, Zehntausende belagerten den Präsidentenpalast. Am Ende stimmten nur zwanzig Prozent der Wahlberechtigten zu, siebzig Prozent enthielten sich.

"Ägypten hat bessere Führung verdient"

Ägyptens Start in das Post-Mubarak-Zeitalter hätte nicht katastrophaler ausfallen können. Mindestens ein Drittel der Bürger fühlt sich durch Mursis Überrumpelungstaktik von der Mitgestaltung ausgeschlossen. Wie eine Krebsgeschwulst frisst sich diese Erfahrung seitdem in die politische Kultur des Landes.

Und so trommeln junge Aktivisten seit Wochen für ein Referendum per Unterschrift. 15 Millionen Mursi-Gegner sollen sich bereits registriert haben, um den Präsidenten am 30. Juni mit einer landesweiten Mega-Demonstration zum Rücktritt zu zwingen. Selbst die höchsten religiösen Autoritäten des Landes, in den letzten Tagen von dem bedrängten Staatschef intensiv umworben, gingen auf Distanz und weigerten sich demonstrativ, dem Volk die geplanten Manifestationen auszureden. Al-Azhar-Chef Ahmed El-Tayeb, der hochrangigste islamische Gelehrte Ägyptens, ließ erklären, "friedliche Demonstrationen seien mit der Scharia absolut vereinbar".

"Das erste Jahr von Mursis Herrschaft war frustrierend", sekundierte ihm der neue koptische Papst Tawadros II. und fügte hinzu. "Ägypten hat eine bessere Führung verdient."

(M.G./ag.)

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