„Aus dem Tiefschlaf erwacht“

Interview. Der in Bulgarien lehrende Wiener Politikwissenschaftler Michael Meznik über den Hintergrund der Proteste – und ihre Chancen.

Die Presse: Warum ist es Dienstagnacht zum Sturm auf das Parlament in Sofia gekommen?

Michael Meznik: Ein Faktor dabei war sicher: Man hat sich an die Proteste Mitte der 1990er-Jahre erinnert. Damals gab es eine ähnliche Situation; die von den Sozialisten geführte Regierung hatte das Vertrauen verloren. Damals zog man vor das Parlament und hat den Rücktritt erzwungen – ebenfalls nach 40 Tagen. Zuletzt kursierte diese Botschaft in den sozialen Medien: „Wir bringen sie am 40. Tag wieder zu Fall!“

Erstmals haben auch sozialistische Abgeordnete Neuwahlen gefordert. Sozialistenchef Sergej Stanischew hat sich dagegen ausgesprochen. Wird er einlenken?

Schwer zu sagen. Bislang hat die Regierung versucht, die Proteste auszusitzen. Sie hat sich sehr stark auf ihre Position zurückgezogen, kein wirkliches Gespräch gesucht. Der Rücktritt der Regierung ist ja eine zentrale Forderung der Demonstranten. Aber das dahinterliegende Problem ist weitaus größer: Auch die Protestierenden wissen, dass man bei Neuwahlen wieder an den Punkt kommt, an dem man vor ein paar Monaten schon einmal war. Es ist auch ein gewisses Problem, dass die Bewegung hauptsächlich auf den sofortigen Rücktritt setzt. Denn die Proteste gegen die Regierung richten sich im Prinzip gegen die Versäumnisse aller politischen Parteien. Wenn die Parteien diese Message nicht aufgreifen, werden Neuwahlen tatsächlich nicht viel bringen.

Um welche Versäumnisse geht es konkret?

Im Kern geht es darum: Die Parteien, die die Interessen gesellschaftlicher Gruppen repräsentieren sollen, tun ihre Arbeit viel zu oft nicht. Nach 23 Jahren erinnern die Bürger die Parteien daran, was deren Aufgabe ist.

Unabhängig davon, ob das Aussitzen weitergeht oder Neuwahlen kommen. Was bleibt von den Protesten?

Erstens der Beweis, dass die bulgarische Gesellschaft aus ihrem Tiefschlaf erwacht ist. Es werden nun all jene Lügen gestraft, die sagen: In Bulgarien ist alles verloren. Was noch bleibt: Bei Aktionen wie diesen lernen Menschen einander kennen, es entsteht, was Demokratie braucht: informierte Bürger, die sich um ihre Interessen kümmern wollen. Ich hoffe auch, dass in den Parteien, seien es die alten oder Neugründungen, all jene Auftrieb bekommen, die sagen: Wir müssen echte Politik machen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2013)

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