Der rätselhafte Giftangriff nahe Damaskus

Children, affected by what activists say was a gas attack, breathe through oxygen masks in the Damascus suburb of Saqba
Children, affected by what activists say was a gas attack, breathe through oxygen masks in the Damascus suburb of SaqbaREUTERS
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Nach dem Studium der Videobilder gehen drei Experten davon aus, dass toxische Substanzen den Massentod in einem Vorort von Damaskus ausgelöst haben. Aufklärung könnten jedoch nur Urin- und Blutproben bringen.

TAHICHE/DAMASKUS. „Ich bin am Leben, am Leben", rief Youma völlig desorientiert im Schockzustand. „Helfen Sie mir, Herr Doktor, helfen Sie mir", flehte das junge Mädchen den Arzt mit weit aufgerissenen Augen an. Der Mediziner konnte wenig tun, um sie zu beruhigen. Ringsum starben andere Patienten. Beklemmende Videoszenen aus Syrien schockierten in den beiden vergangenen Tagen die Weltöffentlichkeit.

Bei mutmaßlichen chemischen Angriffen der syrischen Regierungstruppen auf Stadtteile im Osten von Damaskus sollen Hunderte von Menschen getötet worden sein. „Über 1600 Menschen sind gestorben", behauptete Salim Idris, der Chef der Freien Syrischen Armee (FSA), die seit 2011 das Regime von Präsident Bashar al-Assad bekämpft. Die Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter (Sohr) meldete hingegen, man habe bisher 170 Todesopfer mit Namen identifizieren können. Genaue Angaben konnten bisher nicht gemacht werden. Im betroffenen Gebiet der al-Ghoutha-Region geht die Offensive der syrischen Armee gegen Rebellen unvermindert weiter.

Der britische Außenminister William Hague zeigte sich „geschockt" und sprach von „einer Eskalation im Einsatz von chemischen Waffen in Syrien". Im Laufe dieses Jahres wurden bereits mindestens fünf Fälle gezählt, bei denen chemische Waffen im Spiel gewesen sein sollen. Erst nach langwierigen Verhandlungen ließ die syrische Regierung im August ein Inspektorenteam der Vereinten Nationen einreisen. Es untersucht die Todesfälle von Khan al-Assal, bei dem die meisten der 32 Opfer im März Regierungssoldaten waren. Zudem wird an zwei weiteren Orten ermittelt, die aus Sicherheitsgründen geheim gehalten werden.

Frankreich droht mit Militärschlag

In einer Notfallsitzung diskutierte am Donnerstag der UN-Sicherheitsrat die neusten Ereignisse in Syrien. „Es muss Klarheit darüber hergestellt werden, was passiert ist", sagte Maria Cristina Perceval, die UN-Botschafterin Argentiniens und derzeitige Vorsitzende des obersten UN-Gremiums. Die Ratsmitglieder hätten den Beschluss des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon begrüßt, „eine unabhängige und sofortige Untersuchung einzuleiten". Doch die Vetomächte Russland und China dürften sich auch diesmal wieder querlegen. Ob das 20-köpfige Inspektorenteam, wie es der deutsche Außenminister Guido Westerwelle forderte, „freien Zugang" zu den betroffenen Gebieten bekommt, liegt allein bei Syriens Regierung. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana nannte die Berichte über die chemischen Angriffe „völlig aus der Luft gegriffen". Sie hätten nur das Ziel, „die UN-Kommission von ihren Pflichten abzulenken".

UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon hat seinerseits mit "ernsten Konsequenzen" gedroht, falls sich die Berichte über Chemiewaffenangriffe in Syrien bewahrheiten sollten. "Jeder Einsatz von Chemiewaffen, ungeachtet ihrer Art, des Täters und der Umstände, ist eine Verletzung des Völkerrechts", warnte Ban am Freitag in Seoul. "Ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollte ernste Konsequenzen für denjenigen haben, der es begeht."

"Reaktion kann in Form von Gewalt erfolgen"

US-Präsident Obama, der den Einsatz von chemischen Waffen als „rote Linie" beschrieben hatte, zeigte sich „zutiefst besorgt". Er forderte die UNO auf, „unverzüglich zu untersuchen". Einen Hinweis auf eine mögliche militärische Intervention gab es nicht. Das stellte indes der französische Außenminister in Aussicht. „Sollte sich der Einsatz chemischer Waffen bestätigen", sagte Laurent Fabius in einem Fernsehinterview, „muss es eine Reaktion geben, und die kann in Form von Gewalt erfolgen."

Ein Sprecher des russischen Außenministeriums erklärte am Donnerstag, die syrische Haltung zu den Inspektoren müsse respektiert werden. Er wies jedoch darauf hin, dass sich eine Gruppe der UNO-Experten bereits im Land aufhalte, um frühere Vorwürfe zu untersuchen. Ihre Entsendung sei damals vom Sicherheitsrat und damit auch von Russland beschlossen worden. "Wie könnten wir dagegen sein?", sagte der Sprecher zu neuen Ermittlungen. Russland habe auch Interesse an einer objektiven Aufklärung der Vorgänge.

„Es war kein Sarin"

Bisher ist aber der Einsatz von chemischen Waffen im Osten von Damaskus nicht erwiesen. Die weit über 100 vorliegenden Videos sind keine Beweise. „Die Symptome, die bei den Menschen zu beobachten sind, weisen nicht auf den Einsatz von Sarin hin", sagte Gwyn Winfield, Chemiewaffenexperte von CBRNeWorld, die auf Bedrohungsszenarien spezialisiert ist, zur „Presse". „Mit Sicherheit ist es kein konventioneller militärischer Schlag mit Chemiewaffen."

Nicht anders urteilt der Spezialist Steve Johnson. „Wäre es Sarin oder ein anderes hoch tödliches Nervengas, müsste sich das medizinische Personal kontaminieren. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall." Dan Kaszeta, Ex-Offizier des US-Corps für Chemiewaffen mit 22-jähriger Berufserfahrung, verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt. „Einige der Opfer mögen Symptome von Nervengas haben, aber es fehlen weitere Indikatoren."

Unter den drei Experten herrscht jedoch Übereinkunft, dass eine toxische Substanz im Spiel sein müsste. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten", behauptet Winfield von CBRNeWorld. Es könne sich um Gase handeln, wie sie von der Polizei gegen Demonstranten eingesetzt werden und die ähnliche Symptome erzeugen, wie in den Videos zu beobachten ist. Die Bewohner hätten sich in Kellern und Bunkern verschanzt, als die Raketen niedergingen. Die Gase sind schwerer als Luft und sinken nach unten, was die hohe Opferzahl, gerade auch unter Kindern, erklären würde. Eine andere Variante wäre ein selbst fabriziertes Nervengas mit weit weniger tödlicher Wirkung und Ausbreitung als Sarin. Eine endgültige Aufklärung könnten nur Blut- und Urinproben liefern.

Rauchgranaten aus dem Iran?

In Videos der Rebellen aus Damaskus werden die Reste einer Rakete gezeigt, die bei dem Angriff vom Mittwoch die tödlichen Gase freigelassen haben soll. Bei anderen Chemieattacken in Syrien mit Todesfällen wurden ominöse weiße Plastikgranaten benutzt. „Die Presse" fand in Aleppo einige dieser Exemplare in Händen der Rebellen, die sie aus Regimebeständen erbeutet hätten. Der 22-jährige Anis will sie während seines Militärdienstes bei Eliteeinheiten der vierten Division gesehen haben. Heute ist er als Waffenkurier der FSA unterwegs und versichert: „Diese Rauch-Granaten wurden aus dem Iran geliefert und enthalten ein Nervenberuhigungsmittel". Könnte es dieselbe toxische Substanz sein, die in den Raketen am vergangenen Mittwoch im Osten von Damaskus niederging und so viele Menschen tötete, die auf engstem Raum vor dem Beschuss der Syrischen Armee gemeinsam Schutz suchten?

(„Presse“-Printausgabe vom 23.08.2013 )

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