„Westen hat Syrien längst an die Islamisten verloren“

Free Syrian Army fighters are seen at a tank that belonged to forces loyal to Syria's President Bashar al-Assad in Deraa
Free Syrian Army fighters are seen at a tank that belonged to forces loyal to Syria's President Bashar al-Assad in DeraaREUTERS
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Die Aufständischen warten auf ihre Stunde, sie bereiten sich auf eine Offensive nach einem Militärschlag vor. In zahlreichen Regionen haben die Extremisten bereits die Oberhand gewonnen.

Sie müssen auf dem Mittelstreifen der Autobahn niederknien und werden von hinten erschossen. Eines der Opfer ist nicht gleich tot, versucht wegzukriechen – eine weitere Kalaschnikow-Salve durchsiebt den Körper. Die drei Männer, die man wie räudige Hunde auf der Straße erschießt, waren Lastwagenfahrer, gemeinsam unterwegs zur irakischen Grenze. Zum Verhängnis wurde ihnen ein Checkpoint des Islamischen Staats im Irak und der Levante (Isil). Diese Gruppe repräsentiert, zusammen mit Jabhat al-Nusra, das Terrornetzwerk al-Qaida in Syrien.

„Wie oft knien Sunniten beim Morgengebet nieder?“, waren die drei Fahrer gefragt worden. Als Alewiten wussten sie keine Antwort – und bezahlten dafür mit dem Leben. Für die Radikalen sind die Mitglieder dieser zum Schiitentum gehörenden Sekte des Islam, der auch der syrische Präsident Bashar al-Assad anhängt, Abweichler vom rechten Glauben.

Jihad-Migranten aus dem Irak

Der selbst ernannte Henker soll Abu Waheeb gewesen sein, der unter dem Beinamen Jäger der Nusairis bekannt ist. Er ist 2012 aus dem Muthanna-Gefängnis der irakischen Hauptstadt Bagdad geflohen. Wie viele andere al-Qaida-Kämpfer aus dem Irak hat auch Abu Waheeb seine Zelte in Syrien aufgeschlagen, um am Jihad gegen das Assad-Regime teilzunehmen.

Es sind viele Hunderte von kampferprobten Gotteskriegern, die aus dem Irak und anderen arabischen Ländern nach Syrien kamen. Kein Wunder, dass sie vor einer US-Militärintervention in Sorge sind.

Fateh al-Islam, eine von vielen radikal-islamischen Gruppierungen unter den syrischen Rebellen, warnte über Twitter: Jedem Marschflugkörper der USA, der ein Regierungsziel trifft, werde eine Rakete auf eine Basis der Jihadisten folgen. „Beginnt sofort, eure Standorte zu wechseln. Benützt sichere Verstecke und fahrt nicht in großen Konvois“, hieß es in dem Statement. Man dürfe die Lehren aus Afghanistan und dem Irak nicht außer Acht lassen. „Die Amerikaner haben dort in kürzester Zeit viele der Heiligen Krieger getötet, weil die nicht vorbereitet waren.“

„Jabhat al-Nusra und Isil haben Quartiere und Waffenlager verlegt“, hieß es in Aleppo und in dem von den Rebellen besetzten Norden Syriens. „Gleichzeitig bereiten sie sich auf eine Offensive vor“, meinte ein Kommandeur der als moderat geltenden Gruppe Liwa Tawhid. Aus al-Goutha, der vom Chemiewaffenangriff betroffenen Region, kam die gleiche Information. „Sie haben eingepackt, sind aber bereit, vorzustoßen.“

Jabhat al-Nusra und Isil stehen auf der Terrorliste der USA. Beide sind für das Weiße Haus legitime Ziele. Mit Sicherheit ist unter den militärischen Optionen des Pentagons ein Szenario des Angriffs auf syrische al-Qaida-Ableger aus dem Irak. Realistisch dürfte das zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht sein. Ein Schlag gegen Jabhat al-Nusra und Isil müsste vernichtend und nachhaltig sein. Angesichts der vielen tausenden Jihadisten in Syrien würde das nur zu ungeahnten Komplikationen in der Region führen.

Es ist paradox: Das Weiße Haus und die islamistischen Terroristen haben einen gemeinsamen Feind und stehen auf derselben Seite. Der US-Vergeltungsschlag soll ein Signal für das Regime in Damaskus sein, niemals wieder chemische Waffen einzusetzen. Dafür muss der Angriff, wie Washington betonte, Wirkung zeigen. Mit kosmetischen Militäroperationen erzeugt man keine Abschreckung. Wenn man Stellungen, Panzer oder Flugzeuge der Armee zerstört, ergibt sich ein Vorteil für die Opposition. Und die ist bereit, ihn zu nutzen – allen voran die Islamisten. Sie besitzen die besten Waffen, das meiste Geld, und sie entwickelten sich zur stärksten Rebellentruppe.

Jabhat al-Nusra und Isil kooperieren sehr eng mit Ahrar al-Scham, die zahlenmäßig wohl die meisten Kämpfer landesweit aufbieten können. Die Freien Männer Syriens wollen keinen internationalen Jihad. Sie stehen jedoch, wie ihre beiden al-Qaida-Partner, für ein Kalifat auf der Basis der Scharia, des islamischen Rechts.

In der Hand der Religionspolizei

Die drei Islamistengruppen bestimmen das Leben in Aleppo und in Nordsyrien. Der Osten des Landes ist fast vollständig in der Hand von Isil und Jabhat al-Nusra. Die Freie Syrische Armee (FSA) spielt dort eine untergeordnete Rolle, wenn sie überhaupt noch präsent ist. Die Radikalen zwingen die FSA immer öfter zum Abzug.

In Aleppo kontrollieren die al-Qaida-Gruppen den Getreidehandel und die Bäckereien, sie organisieren die Müllabfuhr und übernahmen zahlreiche Industriebetriebe. Rivalisierende Brigaden oder Bataillone, die meist eine tolerantere Version des Islam befürworten, werden ausgeschaltet und deren Waffen konfisziert. Das kann oft von einem Tag auf den anderen passieren. Unter dem Vorwurf der Korruption werden die Führer verhaftet. Wobei Korruption unter den Rebellen nicht minder grassiert wie unter dem Assad-Regime.

Die Islamisten haben das Recht auf ihrer Seite. Sie gründeten ein islamisches Gericht. Daran beteiligt ist auch die gemäßigtere Liwa Tawhid. Um Urteile durchsetzen zu können, gibt es eine Gerichtspolizei, die sich überwiegend aus Mitgliedern von islamistischen Milizen zusammensetzt. In Aleppo nennt man sie Religionspolizei. Sie unterhält wichtige Checkpoints an Ein- und Ausfallstraßen, die Mitglieder sind in Schwarz gekleidet und tragen vielfach Masken. Die Religionspolizisten mahnen auch Frauen, die nicht sittsam genug gekleidet sind. Frauen ohne Kopftuch sind in Aleppo nie zu sehen.

In den von den Rebellen besetzten Gebieten hat sich eine neue Ordnung etabliert. In Abwesenheit eines Staatsapparats will man trotzdem Sicherheit und eine Form von Recht gewährleisten. Als Referenz dient der Islam. Die Extremisten verfolgen willkürlich unliebsame Geister, Gefangene werden gefoltert und exekutiert. „Die Gefängnisse der Islamisten unterscheiden sich in der Grausamkeit nicht von den Assad-Kerkern“, sagte ein syrischer Aktivist, den Isil für mehrere Wochen eingesperrt hatte.

„Der Westen hat Syrien längst an die Islamisten verloren“, erklärt der Aktivist. „Bombardiert Obama zu wenig, bestätigt sich erneut, dass der Westen kein Interesse am syrischen Volk hat. Bombt man Assad aus dem Amt, kommen die Islamisten an die Macht, und es beginnt ein zweiter Bürgerkrieg.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2013)

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