Die kurdischen Untergrundkämpfer werfen der türkischen Regierung von Erdoğan vor, seine Zusagen nicht einzuhalten.
Istanbul/Güs. Der türkisch-kurdische Friedensprozess erlebt seine erste ernsthafte Krise. Die kurdische Untergrundorganisation PKK hat am Montag den Abzug ihrer Kämpfer aus der Türkei in den Nordirak gestoppt. Damit will die PKK den Druck auf die türkische Regierung erhöhen, neue Reformen zugunsten der Kurden vorzulegen. Auf eine Rückkehr zur Gewalt verzichtet die PKK aber – zumindest vorerst. Die türkische Regierung von Premier Recep Tayyip Erdoğan verhalte sich unaufrichtig. Sie habe trotz Friedensprozess neue Militärstützpunkte im Kurdengebiet bauen lassen, klagte die PKK.
Seit Dezember verhandelt der in der Türkei inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan mit dem türkischen Geheimdienst über eine friedliche Beilegung des seit fast 30 Jahren andauernden Kurdenkonflikts. Im März rief Öcalan die PKK zu einer Waffenruhe auf und forderte seine Kämpfer auf, sich aus der Türkei zurückzuziehen. Der Abzug startete im Mai.
Fast drei Jahrzehnte lang hatte die kurdische Untergrundorganisation PKK gegen den türkischen Staat gekämpft. Jetzt soll der Krieg ein Ende haben. "Presse"-Redakteur Wieland Schneider besuchte die PKK-Kämpfer, die in der EU und den USA nach wie vor auf der Terrorliste stehen, in ihren Rückzugsgebieten in den unwegsamen Bergen des Nordirak. Er verbrachte mehrere Tage mit ihnen und beobachtete, wie sie leben. (c) Wieland Schneider Es sind mehrere Stunden Autofahrt von Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Kurdenregion des Nordirak, bis zu den Ausläufern der Metina-Berge an der Grenze zur Türkei. Die PKK-Kämpfer holen mich dort an einem vereinbarten Treffpunkt ab. Dann Umsteigen in ein Fahrzeug der PKK. Und danach geht es zu Fuß weiter hinein in die Berge. (c) Wieland Schneider Der Marsch führt über unbefestigte Bergstraßen und über enge Pfade, die sich quer durch den Wald schlängeln - vorbei an überwucherten Mauerresten und verlassenen Steinhäusern. Bild: "Presse"-Redakteur Wieland Schneider mit einer PKK-Kämpferin bei einer kurzen Rast. (c) Wieland Schneider In den Reihen der PKK kämpfen viele Frauen, auch als Kommandantinnen. Einige Schätzungen gehen sogar von einem Frauenanteil von bis zu 40 Prozent aus. Die Frauen führen das selbe entbehrungsreiche Leben wie die männlichen Kämpfer. Sie sind mit schwerem Gepäck unterwegs, wechseln alle paar Tage ihren Standort und wohnen im Winter versteckt in Höhlen. (c) Wieland Schneider Die Berge der nordirakischen Autonomen Kurdenregion sind schon seit Jahren das Rückzugsgebeit der PKK. Auf den Gipfeln und in den Schluchten direkt an der Grenze zur Türkei suchten die kurdischen Kämpfer immer wieder Zuflucht vor der türkischen Luftwaffe und starteten von hier aus ihre Operationen. Gleich auf den Bergkuppen gegenüber beginnt die Türkei. Das von der PKK kontrollierte Gebiet zieht sich entlang der türkischen Grenze weiter bis zum Qandil-Gebirge an der irakisch-iranischen Grenze. In Qandil liegt das Hauptquartier der PKK. Etwa 40.000 Menschen starben während des PKK-Aufstandes, tausende kurdische Dörfer wurden von der türkischen Armee zerstört. Doch jetzt herrscht Waffenstillstand. Die PKK zieht sich aus den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei in den kurdischen Nordirak zurück. Der Abzug ist Teil eines Friedensplans, den der in der Türkei inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan mit der türkischen Regierung vereinbart hat. (c) Wieland Schneider Die PKK-Kämpfer verteilen sich nach dem Abzug aus der Türkei in den Bergen im Grenzgebiet. Zwar gilt ein Waffenstillstand, doch das Misstrauen bleibt. Um nicht entdeckt zu werden, sind sie in kleinen Gruppen unterwegs und lagern unter Überdachungen, die sie zum Schutz vor türkischen Drohnen aufgespannt haben. PKK-Chef Öcalan ist allgegenwärtig, blickt von zahlreichen Bildern auf alles, was seine Kämpfer tun. (c) Wieland Schneider Im Camp, in dem die PKK in den Metina-Bergen Besucher unterbringt, sind die Sicherheitsbestimmungen weniger streng. Denn die Untergrundkämpfer gehen davon aus, dass der Standort des Lagers ohnehin bekannt ist. Hier darf offen Feuer verwendet werden, etwa um Tee zu kochen - nach Wasser das wichtigste Getränk in den Bergen. (c) Wieland Schneider Langsam bewegt sich die Gruppe den Hügel herunter. Die Männer und Frauen tragen Waffen, Rucksäcke, Ausrüstung. Kommandant Botan hatte mit seinen Kämpfern in der Türkei vom Berg Cudi aus opereriert - im Länderdreieck Syrien-Türkei-Irak. Zehn Tage lang waren sie marschiert, um die Metina-Berge im kurdischen Nordirak zu erreichen. (c) Wieland Schneider Botan geht an der Spitze seiner Gruppe. "Es hätte schnellere Wege gegeben, um hierherzumarschieren, aber wir mussten Umwege nehmen", erzählt er. "Die türkische Armee hat immer wieder neue Stellungen bezogen, die wir umgehen mussten. Und sie wollten uns aus der Luft ausspionieren." Sein Fazit: "Ich traue dem türkischen Staat nicht. Aber ich vertraue unserem Führer Abdullah Öcalan." Der auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Öcalan ist nach wie vor die dominante Führerfigur in der PKK. Die PKK-Kämpfer hoffen, dass mit ihrem Rückzug aus der Türkei der Tag der Freilassung Öcalans näherrückt. Und wie sieht danach ihre Zukunft aus? "Als Guerillera habe ich keine persönlichen Gedanken an die Zukunft", sagt Sila, eine der Frauen aus Botans Gruppe. "Auch nach der Freilassung unseres Führers wird es noch viel Arbeit geben." (c) Wieland Schneider Gleichsam als Stellvertreter des inhaftierten Öcalan lenkt Murat Karayilan vom Hauptquartier in Qandil aus die PKK. Nach wie vor ist es nicht einfach, an den einstigen "Staatsfeind Nummer 1" der Türkei heranzukommen. Es ist bereits dunkel in Qandil, als das Signal zum Aufbruch kommt: Nur mitnehmen, was für das Interview gebraucht wird und keine Handys. Über enge Straßen geht es weiter hinauf in die Berge. Bei einem verlassen wirkenden Gehöft ist Stopp. Dort, in einem dafür hergerichteten Raum mit violetten Sofas, findet mein Interview mit Murat Karyilan statt. (c) Wieland Schneider Murat Karayilan spricht von einem "wichtigen Friedensprozess", der nun eingeleitet worden sei. Am Ende dieses Prozesses müssten mehr Rechte für die Kurden und die Freilassung Öcalans stehen. Die ursprüngliche Forderung nach einem Kurdenstaat erhebt Karayilan nicht mehr: Staaten seien nicht in der Lage, die Probleme der Menschen zu lösen. "Wir sagen ja zur Freiheit aber Nein zum Nationalstaat." Ziel der PKK ist der sogenannte "demokratische Konföderalismus" - eine Art Selbstverwaltung durch Strukuren auf kommunaler Basis. (c) Wieland Schneider Der langwierige Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK hat erst begonnen. Noch sind viele Fragen offen: Wie genau werden die Kurden in der Türkei zu mehr Selbstbestimmung kommen? Wird der Versöhnungsprozess zwischen PKK und der Türkei funktionieren? Und was soll langfristig aus all den PKK-Kämpfern werden, die jetzt den Rückmarsch aus der Türkei angetreten haben? (c) Wieland Schneider Den Untergrundkämpfern auf der Spur Kurdisch in Volksschulen? Trotz mehrmonatiger Verhandlungen ist unklar, was die Regierung der PKK im Gegenzug für den Gewaltverzicht und den Abzug anbieten will. Die Kurden verlangen unter anderem die Zulassung des Kurdischen als erste Unterrichtssprache in den Volksschulen Südostanatoliens. Erdoğan hat ein Reformpaket angekündigt: Laut den Medien sollen Dörfer und Städte im Kurdengebiet ihren alten kurdischen Namen zurückerhalten, und Kurdisch soll als Verwaltungssprache verwendet werden dürfen. Kurdisch als Muttersprache in den Volksschulen soll es aber nicht geben – Erdoğan will alles vermeiden, was ihm beim nationalistischen Wählersegment viele Stimmen kosten könnte.
Erst am Wochenende sagte Erdoğan, er erwarte keine Probleme im Friedensprozess, und dieser bringe seiner Partei AKP Wählerstimmen im Kurdengebiet. Ein längerer Stillstand des Friedensprozesses würde Erdoğan schaden – das weiß auch die PKK.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2013)
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