Als Israel schon zur Atombombe griff

Ägyptische Pontonbrücke über den Suezkanal, Oktober 1973
Ägyptische Pontonbrücke über den Suezkanal, Oktober 1973Egyptian Army
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Am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, griffen Ägypten und Syrien überraschend Israel an. Der dreiwöchige Krieg, den Israel gewann, hätte massiv eskalieren können, brachte später aber Frieden mit Ägypten.

Ein schreckliches Tohuwabohu kam in diesen ersten Oktobertagen des Jahres 1973 über Israel. Kampfflugzeuge stürzten brennend vom Himmel, Panzer platzten in der Wüste auseinander, Artilleriegranaten fielen herab wie Hagel. Über den Suezkanal und die Golanhöhen waren mächtige arabische Armeen hereingebrochen, zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Tag der Sühne und Versöhnung, wenn das Leben in Israel stillsteht und die meisten Soldaten auf Urlaub sind. Das war am 6. Oktober - einem Samstag.

Israelische Gegenstöße zerschellten unter enormen Verlusten, es sah finster aus, so finster, dass ein völlig verstörter Verteidigungsminister Moshe Dayan am 8. Oktober zu Premierministerin Golda Meir sagte: „Das ist das Ende des dritten Tempels."

Golda Meir und Moshe Dayan, Oktober 1973
Golda Meir und Moshe Dayan, Oktober 1973(c) Reuters

Damit deutete Dayan, der General mit der berühmten schwarzen Klappe über dem linken Auge, das er 1941 als jüdischer Kämpfer an der Seite britisch/australischer Truppen im Gefecht gegen die Vichy-französischen Einheiten im Libanon verloren hatte, eine drohende Niederlage Israels an. Aber es ging um noch mehr: Es war der Code für den möglicherweise nötigen Einsatz von Atomwaffen.

Bereits in der Nacht auf den 9. Oktober ordnete Meir an, 13 taktische Atombomben einsatzbereit zu machen - für alle Fälle, denn das Ende schien tatsächlich nah. Aber es kam anders - und führte wenige Jahre später sogar zum Frieden mit Ägypten.

Doch wie kam es zu diesem vierten Nahostkrieg nach jenen von 1948, 1956 und 1967, in denen die zahlenmäßig stets weit überlegenen arabischen Nachbarn Israels zusehen hatten müssen, wie sich auf dem Territorium des ehemaligen britischen Völkerbundmandatgebietes Palästina ein jüdischer Staat etablierte, der flächenmäßig immer größer und militärisch stärker wurde? Den Krieg hatte ja auch niemand erwartet, weder in Washington, Moskau oder in Europa, nicht einmal in Israel: Dort hieß es, Araber seien zu einem Angriff, ja zu Krieg generell völlig unfähig, und falls doch, werde man ihn im Handumdrehen zurückschlagen, ach, ein Kinderspiel!

Die Arroganz der Siegertypen

Israel war hochnäsig geworden nach seinen früheren Siegen, wähnte sich quasi unter Gottes Schirm. Zuletzt hatte es den Sechstagekrieg vom Juni 1967 haushoch gewonnen: In einem überraschenden Angriff wurden die Armeen der Nachbarn zerschlagen und der Sinai bis zum Suezkanal besetzt, dazu die Westhälfte der syrischen Golanhöhen bis Kuneitra, der Gazastreifen und das „Westufer": Jenes Gebiet Jordaniens westlich des Jordanflusses, das auch den Osten Jerusalems enthielt. „Israel hat sich durch seinen Sieg Sicherheit auf lange Sicht geschaffen", meinte damals Österreichs UN-Botschafter Kurt Waldheim.

Die Araber, allen voran Ägypter, Syrer, Jordanier und die landlosen Palästinenser, waren geschockt und beschämt. Im September 1967 beschloss die Arabische Liga bei ihrem Treffen im Sudan die „drei Nein von Khartum": Kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung und keine Gespräche, solange sich Israel nicht auf die Grenzen von 1967 zurückzöge - Israel lehnte das ab.

Wie aus Trotz brach man gar einen neuen Krieg zum Zaun: den „Abnutzungskrieg". Er begann im Juli 1967 mit ägyptischen Artillerie- und Luftangriffen über den Suezkanal und entwickelte sich zu einer jahrelangen Serie von größeren und kleineren Scharmützeln.

Ägyptischer Iljuschin-Bomber greift an.
Ägyptischer Iljuschin-Bomber greift an.IDF

Ägyptische Kommandoeinheiten sickerten in den Sinai ein, umgekehrt griffen israelische Spezialtruppen, etwa die „Sayeret Matkal" („Späher des Generalstabs), ägyptische Luftabwehrraketenbasen, Stromleitungen und Nilbrücken sowie Ziele in Jordanien und Syrien an.

Jahre des Abnützungskriegs

Im Oktober 1967 wurde der israelische Zerstörer „Eilat" nahe Port Said von ägyptischen Schnellbooten mit russischen „Styx"-Seezielraketen versenkt, worauf die Israelis Raffinerien in Suez beschossen. Ägyptens Generalstabschef Abdul Munim Riad wurde im März 1969 am Suezkanal durch gezielten Beschuss getötet, im selben Jahr „stahlen" israelische Fallschirmjäger eine ägyptische Radarstation moderner sowjetischer Bauart. Und immer wieder gab es Luftangriffe und Luftkämpfe, bei denen auch sowjetische Piloten auf Seite der Ägypter eingriffen.

Als im April 1970 bei einem israelischen Luftangriff fast 50 ägyptische Schulkinder sterben, schränken die Israelis ihre Aktionen auf eindeutige militärische Ziele am Suezkanal und am Golan ein, im August wird gar ein Waffenstillstand vereinbart, in dessen Schutz die Ägypter freilich verabredungswidrig ihre Luftabwehreinheiten am Kanal stark ausbauen.

Die Verlustzahlen des Abnutzungskriegs sind nicht eindeutig, die Rede ist von etwa 600 bis 1400 toten Israelis, 2900 bis 10.000 Ägyptern, 1900 PLO-Kämpfern, „hunderten" Syrern, 84 Jordaniern und 58 sowjetischen Militärberatern, Piloten und Luftabwehroffizieren auf Seiten der Ägypter und Syrer. Es fielen auch rund 180 Kubaner, die mit Syrien fochten, während Ägyptens Luftwaffe wohl um die 100 Flugzeuge verlor, die israelische etwa 16.

Sadat bei Kriegsplanungen. Rechts: Luftwaffenchef Hosni Mubarak.
Sadat bei Kriegsplanungen. Rechts: Luftwaffenchef Hosni Mubarak.Archiv

Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser (im Amt seit 1954), der Oberst der Infanterie und große Charismatiker, starb im September 1970, ihm folgte sein Vize nach, Anwar as-Sadat (*1918), ebenfalls Offizier der Infanterie bzw. Fernmeldetruppe.

"Wir dachten, Sadat sei ein Clown"

Sadat hatte unter Nasser allerhand hohe Ämter bekleidet, keines davon war aber von großer außenpolitischer oder militärischer Bedeutung gewesen, daher galt Sadat, der seine bäuerliche Herkunft aus dem Nildelta gern betonte und als Jugendlicher Schauspieler werden wollte, im Ausland als Unbekannter, als schwache Figur, ja als noch weniger: „Wir dachten, er sei ein Narr. Ein Clown", sagte später Henry Kissinger, 1970 Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon.

Also nahm man es kaum ernst, dass Sadat bald die Rückgabe des Sinai forderte und mit Krieg drohte. 1972 sagte er, sein Land werde „eine Million Soldaten opfern", noch April 1973 legte er in einem Interview die Kriegsoption auf den Tisch. Doch obwohl Sadat seine Streitkräfte durch die UdSSR und andere Ostblockstaaten massiv und immer moderner ausrüsten ließ, vor allem ab 1972, traute niemand den Ägyptern einen Angriff zu.

Ägyptische Panzer
Ägyptische PanzerEgyptian Army

Sadat aber meinte es bitterernst. Er war überzeugt, dass man Israel zumindest „anschlagen" und einen Teilsieg erringen könne - dazu genüge die Überschreitung des Suezkanals, den die Israelis mit einem Sperrwall, der „Bar-Lew-Linie", gesichert hatten, dazu die Eroberung einiger Gebiete auf dem Sinai sowie auf dem Golan. Israel werde dann, so Sadat, verhandlungsbereiter bezüglich der Rückgabe des Sinai sein.

Eine Frage der arabischen Ehre

Zudem hatte er massive innenpolitische Gründe für den Krieg: Die Ehre der Ägypter war seit 1967 gebrochen, diese klassische arabische Machogesellschaft durchlebte eine psychologische Krise, die sich auch durch soziale Unruhen, wirtschaftlichen Abstieg und Verarmung ausdrückte. Zudem forderten einige Gruppen, vor allem Studenten und Intellektuelle, aktiv Krieg.

Mit einem auch nur halbwegs erfolgreichen Waffengang hoffte Sadat, die Ehre und das Selbstwertgefühl der Ägypter wiederherzustellen, die Lage im Land zu beruhigen und genug Prestige zu sammeln, um wirtschaftliche und soziale Reformen gegen die verkrusteten Machtstrukturen durchzubringen (die „Infitah", die Politik der Öffnung, Modernisierung und Liberalisierung).

Ägyptische MiG-21
Ägyptische MiG-21Egyptian Airforce

Aus strategischer Notwendigkeit holte Sadat vor allem Syrien ins Boot. Dessen despotischer Herrscher Hafiz al-Assad (1930-2000, Premier seit dem Putsch 1970, Präsident seit 1971, zuvor General der Luftwaffe), ließ sich ebenfalls vom Osten aufrüsten. Und er hatte, wie Sadat, beschränkte Ziele: Assad wollte den Golan zurück und bestenfalls zum Jordan vordringen, um danach eventuell über den Status des Westjordanlandes reden zu können.

Zerstörung Israels war nicht geplant

Darüberhinausgehende Absichten, etwa ein Vormarsch ans Mittelmeer oder weiter nach Süden ins israelische Herzland, sind nicht überliefert. Das aber heißt, dass der bald folgende Jom-Kippur-Krieg Israel keinesfalls in den Untergang geführt hätte, wie es seither allerorten heißt.

Freilich könnte diese arabische Selbstbeschränkung, wie manche Historiker und Militärexperten meinen, gerade auch darin wurzeln, dass man schon damals annehmen durfte, dass Israel Atomwaffen „im Keller habe" und bei einer ernstlichen Bedrohung seines Kernraums einsetzen werde.

Jordaniens König Hussein (1935-99, König seit 1952) hielt sein Land aus dem Angriffsbündnis diesmal weitgehend heraus. Seine Streitkräfte waren recht klein, er fürchtete weitere Gebietsverluste, zudem war er im Clinch mit der PLO: Hussein wollte zwar das 1967 verlorene Westufer von Israel zurück, doch erhoben die Palästinenser ebenfalls Anspruch darauf. In dieser Forderung hatten sie die meisten arabischen Staaten hinter sich, darunter auch Syrien, was die Jordanier verärgerte.

Die USA hatten kein Interesse an einer Veränderung des Status quo und traten für Verhandlungen ein - das taten auch die Sowjets, die im Übrigen ihren nahöstlichen Verbündeten militärisch in Wahrheit wenig zutrauten, nicht einmal die Überquerung der Bar-Lew-Linie. Sowjet-Machthaber Leonid Breschnew (1907-82, Generalsekretär der KPdSU seit 1966) wollte Frieden in der Region und Entspannung mit den USA. Als Moskau daher die ägyptischen Angriffsplanungen durchsickern ließ, tobte Sadat, warf im Sommer 1972 das Gros der etwa 20.000 russischen Militärberater aus dem Land und begann ganz zart eine Zuwendung Richtung Washington.

Trotz des Rauswurfs der Russen kaufte Sadat von diesen weiter Militärgerät, vor allem MiG-21-Jäger, T-62-Panzer, RPG-7-Panzerfäuste und Panzerabwehrraketen AT-3 (Nato-Code: „Sagger", die werden noch eine wichtige Rolle spielen). Zudem blieben einige Sowjet-Kampfeinheiten zurück: Darunter Verbände der Luftabwehr und solche mit „Scud"-Boden-Boden-Raketen.

AT-3
AT-3 "Sagger" Panzerabwehrraketesinodefence.com

Als die Ägypter im Sommer und Herbst 1973 mit großen Manövern östlich von Kairo begannen waren weder Israelis, Russen oder Amerikaner besonders besorgt, schon deshalb, weil die Manöver Routine zu sein schienen. Israels Militärgeheimdienst „Aman" kannte in Details die konkreten Offensivpläne der Ägypter, mit welchen Verbänden sie wo über den Kanal kommen wollten, und dass sie bis zu strategisch wichtigen Pässen in den Sinai-Bergen östlich von Suez gelangen wollten, dem Mitla-Pass und Gidi-Pass, rund 35 bis 60 Kilometer entfernt.

Falsche Geheimdienstprognose

Doch Aman glaubte aufgrund seiner Quellen, die ins ägyptische Militär reichten, einen Großangriff 48 Stunden vorher sicher vorhersagen zu können - da bliebe Zeit für einen Präventivschlag der Luftwaffe. Aman nahm auch richtig an, dass Syrien nie allein angreifen würde. Gleichzeitig war Aman aber überzeugt, dass Ägypten sich erst als kampfbereit erachten werde, wenn die vielen bestellten MiG-23-„Flogger"-Jagdbomber aus neuester Sowjetproduktion eingetroffen seien, die mit den amerikanischen F-4-„Phantom" und französischen Mirage-Jägern der Israelis gleichwertig waren. Da täuschte sich Aman: Sadat wartete nicht.

Zudem streuten die Ägypter geschickt Fehlinformationen, etwa, dass viele ihrer schweren Waffen defekt seien und man sie ohne Russen nicht benutzen könne; wenige Tage vor dem Angriff wurden auch mindestens 20.000 Soldaten unter großer Publicity von den Manövern abgezogen und heimgeschickt. Im Übrigen war gerade Ramadan: Wer sollte da glauben, dass die Araber genau dann in den Krieg ziehen wollten?

Jordaniens König warnte Israels Premierministerin Ende September vor einem baldigen Krieg, das wurde ignoriert, ebenso wie ein Dutzend anderer Hinweise aus „gut informierten Quellen". Der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, Tzwi Zamir (*1925 in Polen), sagte später: „Wir glaubten einfach nicht, dass die kämpfen konnten."

Israelis waren nicht total überrascht

Dennoch waren die Israelis am 6. Oktober auch nicht völlig überrascht, wie es oft heißt: General Ariel Sharon (*1928 nahe Tel Aviv), damals Kommandeur einer Reserve-Panzerdivision, etwa schlug am 5. Oktober Alarm, als ihm sein Divisions-Geheimdienst Luftbilder von noch nie dagewesenen ägyptischen Truppenkonzentrationen zeigte. Ebensolches bemerkte der Mossad auch in Syrien, und dass die Familien russischer Militärberater aus Kairo und Damaskus überstürzt ausgeflogen wurden. Die Sowjets hatten auch gerade erst vom kommenden Angriff erfahren - die Amerikaner bemerkten den Krieg gar erst, als er tatsächlich ausbrach.

Am Morgen des 6. Oktober 1973 tagte das Kabinett Meirs inklusive höchster Militärs und beschloss nach viel Hin und Her vorerst eine Teilmobilmachung von etwa 120.000 Mann in vier Panzerdivisionen sowie der Luftwaffe. Einen Präventivangriff lehnte sie ab: „Wenn wir zuerst zuschlagen wird uns keiner helfen." Tatsächlich sagte Kissinger später, dass Israel in diesem Fall „nicht einmal einen Nagel" an Hilfe bekommen hätte.

Israelischer
Israelischer "Centurion" im SinaiIDF

Doch was waren 120.000 Mann schon? Die zahlenmäßige Überlegenheit der Araber war erneut enorm (die Zahlen sind vor allem in Hinsicht auf die arabische Seite nicht genau überliefert und variieren stark von Autor zu Autor). Israel konnte demnach insgesamt etwa 300.000 Soldaten mobilisieren (manche Quellen sprechen von 400.000), Ägypten 650.000 bis 750.000 und Syrien 150.000 bis 200.000.

Israel hatte 1700 Kampfpanzer, meist moderne amerikanische M-60 „Patton" und britische „Centurion", aber auch viele ältere M-48 und sogar noch „Super Shermans" aus den 1950ern. Ägypten hatte 1700 bis 2600 Panzer, Syrien 1200 bis 2000, typischerweise russische T-54 und T-62, aber auch noch - nun wirklich schon sehr alte - T-34 aus Weltkriegsbeständen.

Mehrfache arabische Überlegenheit

Bei schweren Artilleriegeschützen und Raketenwerfern (ab Kaliber 100 Millimeter) standen etwa 950 israelische mindestens 1200 ägyptischen und 900 syrischen gegenüber, wobei speziell hier die Zahlenangeben sehr verwirrend sind, aber von einer global gesehen doppelt- bis dreifachen arabischen Feuerkraftüberlegenheit auszugehen ist. Israel hatte etwa 460 Kampfflugzeuge (vor allem F-4 „Phantoms" und A-4 „Skyhawk"-Bomber), Ägypten mehr als 600 und Syrien mehr als 400, typischerweise MiG-21-Jäger, ältere MiG-19 und MiG-17 und Suchoi Su-7-„Fitter"-Jagdbomber.

Insgesamt war, simpel gesagt, das israelische Gerät jenem der Araber technisch überlegen, die Panzer etwa hatten meist eine höhere Schussreichweite und waren besser gepanzert. Zumal die russischen Panzer die unangenehme Eigenart hatten, dass ihre Motoren gern schon bei unbedeutenden Treffern, allein wegen der Erschütterung, zu Brennen anfingen. Allerdings mussten die Israelis an zwei Fronten stehen (zuzüglich einer möglichen dritten gegenüber Jordanien) und die Araber hatten moderne, in diesem Ausmaß noch nie zuvor benutzte Systeme zur Panzer- und Luftabwehr, mit denen sie Israel bald schwer zusetzten.

Überdies waren Ägypter und Syrer nicht allein: Mehrere Staaten stellten im Vorfeld des Kriegs oder in dessen Verlauf Interventionstruppen bereit, gesamt wohl um die 50.000 bis 90.000 Mann, etwa 500 Kampfpanzer und 100 Kampfjets. Marokko etwa sandte eine Infanteriebrigade nach Ägypten und ein Panzerregiment an den syrischen Golan, zusammen etwa 3000 Mann und 50 Panzer. Saudiarabien und Kuwait schickten je etwa 3000 Mann (je etwa eine Brigade) nach Syrien, Tunesien ein rund 1500 Mann starkes Infanterieregiment nach Ägypten, es stand in Port Said und im Nildelta. Libyen schickte etwa 40 Mirage-V-Jets nach Ägypten, etwa so viele MiGs und Suchois kamen aus Algerien.

1500 bis 3000 Kubaner fochten in Syrien. Am wichtigsten waren Verstärkungen aus dem Irak und Jordanien: Zwei Panzerdivisionen bzw. zwei Panzerbrigaden (etwa 400 bzw. 80 Panzer, 30.000 bzw. 4000 Mann), die ab 12. Oktober in Syrien eintrafen und nicht unbeteiligt daran waren, dass Damaskus gegen die Israelis gehalten werden konnte.

Der General aus Wien

Israels Verteidigungsplanung indes ging primär davon aus, dass eben gar nichts passieren würde oder man für einen Präventivschlag genug Zeit haben würde. Auf dem Golan, einem Gebiet von nur etwa 20 bis 25 Kilometer Tiefe zwischen Syrien und dem Jordan bei rund 70 Kilometer nordsüdlicher Frontbreite, waren wegen des schwierigen Geländes und der miserablen Kampfleistung der Syrer in den früheren Kriegen nur sehr wenige Einheiten stationiert: Am 6. Oktober waren es die 7. Panzerbrigade im Nordabschnitt und die 188. Panzerbrigade „Barak" im Süden, zusammen rund 3000 Mann, 180 Centurion-Tanks und 60 Geschütze. Die Israelis hatten hier auch Minenfelder, Panzergräben und Bunkeranlagen angelegt.

US-Flugzeugträger im Sueskanal, 1981, am Ufer links Reste der Bar-Lew-Linie
US-Flugzeugträger im Sueskanal, 1981, am Ufer links Reste der Bar-Lew-LinieUS Navy

Entlang des rund 160 Kilometer langen Suezkanals indes verlief der Stolz Israels: die Bar-Lew-Linie. Gebaut nach dem Sechstagekrieg war das eine gewaltige, rund 20 Meter hohe und an ihrem Fuß in etwa vergleichbar dicke Aufschüttung aus Sand, wurzelnd in Betonfundamenten, die in einem Winkel von 45 bis 65 Grad unmittelbar zum Wasser hin abfiel. Sie war mit MG- und Geschützständen und in gewissen Abständen mit Bunkern und Forts bestückt und galt als unerstürmbar, vor allem für mechanisierte Einheiten, zumal der Kanal mit seinen damals 180 bis 220 Metern Breite als „bester Panzergraben der Welt" galt.

Namensgeber und Initiator war der israelische Generalstabschef während des Abnutzungskriegs, Chaim Bar-Lew - ein gebürtiger Wiener (1924-94).

Chaim Bar-Lew anno 1973 (Mitte). Links Panzergeneral Ariel Sharon, rechts Generalstabschef David Elazar.
Chaim Bar-Lew anno 1973 (Mitte). Links Panzergeneral Ariel Sharon, rechts Generalstabschef David Elazar.GPO

Die Linie war in Friedenszeiten nur mit etwa einem Bataillon (rund 800 Soldaten) bemannt und war eigentlich nicht besonders schwer bewaffnet, Vergleiche etwa mit der waffenstarrenden, massiv verbunkerten französischen Maginot-Linie sind irrig. Vielmehr galt die Bar-Lew-Linie schon aufgrund ihrer Form und Lage als uneinnehmbar und sollte schlimmstenfalls als "Stolperdraht" dienen: Im Fall eines Angriffs würden die drei im nahen Hinterland postierten Brigaden einer Panzerdivision anrücken und die Luftwaffe eingreifen; zur Not kämen weitere Truppen heran.

Die Israelis glaubten, dass selbst ein technisch versierter Angreifer den Sandwall nicht vor 24 bis 48 Stunden an einigen Stellen durchdringen könnte - bis dahin wären aber schon zwei bis drei Panzerdivisionen vor Ort.

Die "Operation Vollmond"

Am 6. Oktober um 14 Uhr begann der Angriff: Die Ägypter nannten ihn Operation „Badr" („Vollmond"), benannt nach einer historischen Schlacht zu Zeiten des Propheten Mohammed (der Mond war am 6. Oktober 1973 über der Region nur etwas mehr als zur Hälfte voll und hing von Sonnenuntergang bis Mitternacht an einem klaren Nachthimmel).

An der Sinaifront griffen mehr als 200 Kampfflugzeuge die Bar-Lew-Linie, dahinterliegende Basen, Flugfelder und andere Ziele an, große Tupolew-Bomber (Tu-16 „Bear") starteten „Kelt"-Marschflugkörper (Reichweite 200 Kilometer) ins Hinterland. Mehr als 2000 Geschütze und schwere Granatwerfer deckten die Linie und ihr rückwärtiges Gebiet ein, dass den Israelis Hören und Sehen verging, etwa eine Stunde lang und mit einer Feuerrate, die zumindest anfänglich mehr als 10.000 Granaten pro Minute betrug.

Eingesetzt wurden auch „FROG"-Kurzstreckenraketen gegen Basen tief im Sinai. Die Ägypter rühmten sich später, dass sie einen 40prozentigen (!) Verlust an Flugzeugen in der ersten Welle eingeplant hätten; tatsächlich seien es kaum drei Prozent gewesen (andere Autoren wie CIA-Analyst Kenneth Pollack geben gut zehn Prozent an).

Ägypter setzen über den Kanal, hinten der Hang der Bar-Lew-Linie
Ägypter setzen über den Kanal, hinten der Hang der Bar-Lew-LinieKeystone/Hulton Archive

Hubschrauber brachten Kommandoeinheiten mit tragbaren Panzerabwehrwaffen über die Linie und teils tief hinein in den Sinai, und unter dem Feuerschutz der Artillerie setzten Infanterie-Sturmtruppen mit Panzerfäusten und Flammenwerfern an fünf Punkten in Schlauchbooten über den Kanal. Die erste Welle bestand aus etwa 4000 Soldaten, bis etwa 17.30 Uhr waren es 32.000 Mann, die die Sandwälle erklommen, den Widerstand brachen und sich auf der Ostseite der Linie eingruben, um Gegenstößen mit ihren Panzerabwehrwaffen zu begegnen.

Nur etwa 450 Israelis hielten die Linie, etwa 130 fielen, der Rest wurde großteils gefangen. Amphibische Einheiten überquerten mit PT-76-Schwimmpanzern und Landungsbooten die zwei „Bitterseen" zwischen Ismailia und Suez ohne Widerstand, denn hier gab es keine Bar-Lew-Linie.

Ägyptische Pioniere mit Wasserwerfern
Ägyptische Pioniere mit Wasserwerfern Archiv

Mit der Sturminfanterie kamen Pioniere, die Pontonbrücken legten und vor allem mit einer simplen „Geheimwaffe" den Sandwällen zu Leibe rückten: mit mehreren hundert Wasserwerfern. Diese bezogen ihr Wasser aus dem Kanal, ihre starken Wasserstrahlen konnten die Sandwälle weit schneller durchschneiden als hätte man Kanonen, Sprengstoff oder Bulldozer eingesetzt.

Mit Wasserstrahlen gegen Sandmauern

Binnen zwei bis drei Stunden waren die meisten der geplanten Lücken so weit aufgeschnitten, dass mehrere Soldaten nebeneinander durchgehen konnten, am späten Abend konnten die ersten Verstärkungen auf Fahrzeugen sowie die ersten Panzer über die Brücken und durch die Lücken auf den Sinai gebracht werden.

Panzer rollen über den Kanal
Panzer rollen über den KanalArchiv

Bis zum Morgen des 7. Oktober hatten die Ägypter mehr als die Hälfte der Masse von fünf Infanteriedivisionen und einer Brigade übergesetzt, vorerst waren das mehr als 50.000 Mann und 400 Kampf- und Jagdpanzer. Die Hauptbrückenköpfe waren bei Suez, zwischen den Bitterseen, bei Ismailia, Qantara und Port Said und reichten zunächst etwa fünf Kilometer in die Tiefe.

Der Suezkanal war jedenfalls nicht zum „Grab der Ägypter" geworden, wie die Israelis getönt hatten: „Nur" etwa 280 Mann waren bis 7. Oktober direkt an der Bar-Lew-Linie gefallen.

Ägyptische SA-6
Ägyptische SA-6 "Gainful"-LuftabwehrraketenEgyptian Army

Israels Luftwaffe griff wie erwartet an, sah sich aber einer Wand aus Luftabwehrkanonen und vor allem -Raketen (etwa SA-3 „Goa" und SA-6 „Gainful") gegenüber, Dutzende Jets wurden an den ersten zwei Tagen abgeschossen, mindestens 70 bis zum fünften Kriegstag.

Avraham Mendler, Panzergeneral aus Linz
Avraham Mendler, Panzergeneral aus LinzIDF

Am Boden lief es nicht besser: Dort rückten sofort die Panzer- und Infanteriereserven zum Gegenstoß an - es war primär eine verstärkte Panzerdivision unter General Avraham „Albert" Mendler, einem gebürtigen Linzer (*1929).

Israelis liefen ins Messer

Die Panzerstöße waren in der Hektik der Ereignisse unkoordiniert, „scheibchenweise", ohne Luft- und Artillerieschutz und wurden zum Massaker: Mindestens 100 der mehr als 300 Panzer Mendlers fielen bis 17.30 Uhr aus, bis Mittag des 7. Oktober weit über 200.

Abgeschossener israelischer M-60
Abgeschossener israelischer M-60Egyptian Army

Zerschlagen wurden die Eingreiftruppen meist von den ägyptischen Infanteristen und Commandos, die sich mit lenkbaren „Sagger"-Panzerabwehrraketen (Reichweite 3000 Meter), Pak und Panzerfäusten (Reichweite einige hundert Meter) an den Brückenköpfen eingegraben hatten. Die israelischen Panzercrews sahen sie nicht und wussten nicht, dass die Ägypter Saggers hatten; sie waren vor allem für den Kampf Panzer gegen Panzer ausgebildet und darin erfahren - die jetzige taktische Lage überforderte sie.

Schon wieder Wurzeln in Österreich

Die Division Mendler wurde aus dem Kampf genommen und zog Richtung Süden ab, um aufgefrischt zu werden. Mendler fiel am 13. Oktober in seinem Kommandofahrzeug durch ägyptischen Artilleriebeschuss (andere Quellen sprechen von einer Sagger). An seine Stelle trat der nur 44jährige Generalmajor Kalman Magen - erneut ein gebürtiger Wiener.

Panzergeneral Kalman Magen, gebürtiger Wiener
Panzergeneral Kalman Magen, gebürtiger WienerIDF

Im Laufe des 7. Oktober war die Überquerung des Kanals („al-obour") durch die fünf Infanteriedivisionen und die Brigade abgeschlossen, die Stadt Qantara wurde erobert, die Brückenköpfe wurden auf neun Kilometer Tiefe erweitert, darin standen jetzt fast 100.000 Ägypter und 1000 Panzer. Weitere Gegenstöße wurden abgeschlagen. Die meisten israelischen Forts an der Linie waren jetzt erobert, bis Kriegsende hielt sich nur eines: „Fort Budapest", das nördlichste am Mittelmeer.

Die ägyptische Front war aufgeteilt in zwei Armeen: die 2. Armee nördlich des Großen Bittersees bis Port Said und die 3. Armee südlich davon bis Suez. Die 2. Armee umfasste drei der Infanteriedivisionen sowie die Brigade, die 3. Armee zwei Divisionen. In den Tagen bis 13. Oktober setzten weitere Panzereinheiten über den Kanal: zwei Panzerdivisionen und eine Brigade im Norden, eine Division und eine Brigade im Süden.

Phase eins am Sinai
Phase eins am SinaiUS Military University

Die Israelis hatten mittlerweile ihre Reserven rascher mobilisiert als erwartet: Weil es zu Jom Kippur kaum Verkehr gab konnten die Soldaten schnell ihre Kasernen erreichen und von dort meist unmittelbar, ohne viele Vorbereitungen und in recht anarchischem Zustand, an die Front fahren, um sich zu sammeln. Am 8. Oktober waren zwei weitere Panzerdivisionen unter Ariel Sharon und Avraham Adan am Sinai eingetroffen.

Ein überforderter Südfront-Kommandeur

Im Oberkommando an der Sinaifront in Bir Gifgafa ging es drunter und drüber: Dessen Chef, General Shmuel Gonen (*1930 in Vilnius/Wilna im heutigen Litauen, damals war die Stadt bei Polen) war überfordert, cholerisch und überhaupt wenig beliebt. Er befahl dem kernigen Adan (*1926 in Nordisrael, +2012), mit seinen rund 180 Panzern den schwer gesicherten Brückenkopf bei Ismailia direkt anzugreifen, was ein Fiasko wurde: Rund zwei Drittel der Division wurden zerstört, dazu Dutzende Panzer anderer Einheiten.

Ägypter mit Sagger-Raketen
Ägypter mit Sagger-RaketenEgyptian Army

Weil es bis zu diesem Tag auch an der Golanfront schlimm aussah verfiel Israels Militärspitze in Panik - darum der codierte Ruf Moshe Dayans nach Atomwaffen an eben diesem Tag.

Doch dann drehte sich die Lage recht rasch. Bis zum 9. Oktober hatte sich die Sinaifront stabilisiert, sie verlief bis zu etwa 18 Kilometer östlich des Kanals und die ägyptischen Bodentruppen standen ziemlich sicher unter dem Schutzschirm der Luftabwehr, die den Israelis weiter schwer zusetzte.

General Shmuel Gonen, der Unglücksrabe
General Shmuel Gonen, der UnglücksrabeIDF

Am 10. Oktober wurde Gonen abgelöst - durch Chaim Bar-Lew. Der war zwar mittlerweile Handelsminister, aber Golda Meir wollte ihn auf dem Posten. Er brachte mit seiner langmütigen, ja trägen, aber bestimmten Art Ruhe in die Arbeit des Stabes, wo Gonen zuvor getobt und geschrien hatte.

Es folgten Tage relativer Ruhe, in denen jedoch Israels Luftwaffe, nachdem die Golanfront gegenüber den Syrern gerettet war, verstärkt hier zuschlug, Brücken über den Kanal beschädigte und die ägyptische Luftabwehr stückweise auseinanderzunehmen begann.

"Blackbird"-AufklärerUS Airforce

Amerikanische SR-71-„Blackbird"-Aufklärer überflogen mehrfach das Kriegsgebiet, mit dreifacher Schallgeschwindigkeit in mehr als 25 Kilometer Höhe, unerreichbar für jede Abwehr. Durch sie sowie Spähtrupps am Boden fand man eine truppenfreie Lücke an der Naht zwischen der 2. und 3. ägyptischen Armee, unmittelbar nördlich des Großen Bittersees.

Größte Panzerschlacht seit II. Weltkrieg

Sadat ordnete gegen den Willen seines Generalstabschefs, General Saad el-Shazly (1922-2011), einen Ausbruch der Panzereinheiten aus den Brückenköpfen an, um die Pässe östlich Suez zu nehmen und am Mittelmeer vorzurücken - damit verließen sie den Schirm der Luftabwehr und waren auf eigene Flugzeuge und die wenige verfügbare mobile Flak angewiesen.

Ägyptische Panzer rollen ins Gefecht.
Ägyptische Panzer rollen ins Gefecht.Archiv

Am 14. Oktober 1973 donnerten also rund 1000 Kampfpanzer entlang fünf Angriffsachsen in die Wüste - und liefen drei aufgefrischten israelischen Panzerdivisionen mit etwa 750 Panzern vor die Rohre, während Flugzeuge von oben herabstießen. Es wurde die größte Panzerschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg, ein Desaster für die Ägypter: Sie verloren mehr als 250 Kampf- und 200 Schützenpanzer, nur ein halbes Dutzend israelischer Panzer wurden irreparabel zerstört.

Die Israelis gingen sofort zum Gegenangriff über: Sharons Panzerdivision fuhr in die Lücke zwischen den ägyptischen Armeen, ein Fallschirmjägerbataillon unter Oberst Danny Matt, einem bärtigem, 1927 in Köln geborenen Haudegen, setzte in der Nacht zum 15. Oktober in Booten über und sicherte einen Brückenkopf.

Dann ging alles schnell: Eine gepanzerte Einheit Sharons setzte auf Flößen über und kämpfte die lokale Luftabwehr nieder, in den nächsten Tagen setzte die übrige Division über, gefolgt von jenen Magens und Adans.

Israelische
Israelische "Phantom" über israelischen PanzernIDF

Wie in einem großen Sichelschnitt fuhren die Israelis nach Süden zum Roten Meer und kesselten bis 23. Oktober die 3. Ägyptische Armee ein. Ägyptische Gegenangriffe scheiterten, umgekehrten blieben die Israelis vor Ismailia liegen und konnten Suez nur teilweise erobern, drangen aber bis auf etwa 100 Kilometer vor Kairo vor.

Die 3. ägyptische Armee als Weltpolitikfaktor 

Der UN-Sicherheitsrat rief am 22. Oktober zum Waffenstillstand auf, dieser hielt aber vorerst nicht: Ägyptische Scud-Raketen (möglicherweise von Russen gestartet) flogen gegen den israelischen Brückenkopf, die Israelis nahmen Suez weiter in die Zange und drangen langsam in die Randzonen der Stadt am Südende des Suezkanals vor.

Die USA aber mischten sich jetzt massiv ein und verboten den Israelis mit Erfolg, die 3. Armee aufzureiben: Dadurch - und das war auch Washingtons Kalkül - wurden sie nämlich gegenüber Kairo zum Retter dieser Armee mit ihren nur mehr etwa 30.000 Soldaten und stärkten ihre künftige Verhandlungsposition in der Region.

Zerstörte israelische Tanks vor Ismailia
Zerstörte israelische Tanks vor IsmailiaMilitary Battles on the Egyptian Front by Gammal Hammad

Von 24. bis 26. Oktober brachen wieder schwere Kämpfe im Großraum Suez auf, sie flauten rasch ab, am 28. Oktober trafen ägyptische und israelische Offiziere an der Hauptstraße von Kairo nach Suez erstmals direkt zu Waffenstillstandsgesprächen zusammen.

Ägypten hielt am Ende weiter Gebiete östlich des Kanals nördlich von Ismailia, etwa 1200 Quadratkilometer. Israel hatte keine der Kanalstädte erobern können.

Sinai, Phase zwei
Sinai, Phase zweiUS Military Academy

Weit heikler war die Lage unterdessen auf dem Golan gegenüber Syrien gewesen, weil Israels Kernland hier unmittelbar bedroht war. Zudem schien die Lage auf dem Hochplateau aussichtsloser: Über die erwähnten zwei Brigaden mit ihren rund 180 Panzern und 3000 Mann brachen am Nachmittag des 6. Oktober drei Infanteriedivisionen herein, gefolgt von 7. bis 9. Oktober von zwei Panzerdivisionen und einer Elite-Panzerbrigade.

Syriens gewaltige Panzermassen

Die syrischen Infanteriedivisionen waren relativ mannschaftsschwach, je etwa 10.000 Mann, sie verfügten aber (oder genau deswegen) über ungewöhnliche viele Panzer, je etwa 200, mehr als doppelt so viele wie in westlichen Formationen damals üblich; „richtige" syrische Panzerdivisionen hatten mindestens 250 Panzer. Assad sandte also vorerst mehr als 1200 Panzer, 800 Geschütze und 50.000 Mann ins Gefecht.

Israelis auf dem Golan unter Beschuss
Israelis auf dem Golan unter BeschussIDF

Gleich in den ersten Stunden eroberten Spezialeinheiten und Fallschirmjäger den Horchposten des Militärgeheimdienstes Aman auf dem 2800 Meter hohen Berg Hermon, dort waren nur etwa 55 Israelis, viele davon Techniker und Aman-Leute. Mehr als 40 israelische Jets wurden in den kommenden Tagen von der syrischen Flak abgeschossen.

Was nun in den Tagen bis 8./9. Oktober geschah wurde (nicht nur) in Israel zur Legende, ja hatte fast was Übersinnliches: Die zwei Brigaden krallten sich irgendwie so klettenhaft in die schwierige Landschaft, dass die Panzerwellen an ihnen großteils zerschellten.

Die Schlacht im "Tal der Tränen"

Günstig für die Israelis war, dass die Syrer in dem schwierigen Gelände oft nicht vorankamen, in Minenfelder fuhren, ihre Kommandeure stets zu zögerlich vorgingen und die israelischen Panzer auch aus Bunkerstellungen heraus schießen konnten. Man merkte, dass die israelischen Panzer stärker waren, einen Treffer eher aushielten und ihre Insassen einfach die besseren Schützen und Taktiker waren.

Zwei Centurions und ein Schützenpanzer auf dem Golan
Zwei Centurions und ein Schützenpanzer auf dem GolanIDF

Berühmt wurde die Schlacht im „Tal der Tränen", einer Trog-artigen, wenige Kilometer langen, mehrere hundert Meter breiten und recht flachen Senke nördlich von Kuneitra, vielleicht drei Kilometer von der Grenze entfernt. Hier und in ihrem Umfeld stemmte sich die 7. Panzerbrigade der Israelis unter Oberst Avigdor Ben-Gal, 1936 in Polen geboren, im wesentlichen gegen die 7. syrische Division und Teile einer zweiten, denen später eine Panzerdivision und eine Panzerbrigade folgten. Der 7. Division war auch ein Regiment aus Marokko angegliedert.

Oberst Avigdor Ben-Gal
Oberst Avigdor Ben-GalIDF

Die vorderen Einheiten der Angreifer blieben zunächst an einem Panzergraben hängen und erlitten Verluste, Brückenlegepanzer waren versehentlich nicht in der vorderen Welle mit dabei und mussten erst umständlich herangeholt werden.

Im Laufe der Nacht auf den 7. Oktober konnten die Syrer den Panzergraben teils überwinden, teils umgehen. In der Dunkelheit waren sie sogar im Vorteil, denn ihre sowjetischen T-54- und T-62-Kampfpanzer hatten Nachtsichtgeräte, die Centurions der Israelis hingegen nicht, weshalb nun die Verluste der Verteidiger deutlich zunahmen und sich die gewaltigen Panzermassen der Syrer langsam und scheinbar unaufhaltsam weiterwälzten - bis ins erwähnte Tal der Tränen.

Das
Das "Tal der Tränen"Orias

Die israelischen Centurions hatten sich mehr oder weniger in einer Reihe auf dessen westlichem Höhenzug postiert. Ihre Kanonen konnten sie soweit nach unten absenken, dass sie in den Talboden feuern konnten, gleichzeitig aber großteils von der Geländekante verborgen blieben und nur ihren Turm zeigten, also sehr kleine Ziele boten. Die Syrer hingegen konnten, wenn sie in die Senke hinabfuhren, ihre Kanonen meist nicht hoch genug richten, um die Centurions gegenüber zu erwischen; fuhren sie aber den Westhang hinauf, sahen sie von den israelischen Panzern fast nichts.

Nun tobte über mehrere Tage und Nächte ein Abwehrgefecht, am zweiten Tag standen einander an den Talrändern etwa 500 syrische und 40 israelische Panzer gegenüber. Und auch wenn die Lage für die Israelis wie auf einem Schießstand war und die syrische Luftwaffe kaum noch eingriff, begannen die Reihen der 7. Brigade doch zu schmelzen. An einigen Frontabschnitten abseits der Tals durchbrachen die Syrer ihre Linien und verwickelten sie in Nahkämpfe, Artillerie forderte hohe Opfer.

Verwundete auf dem Golan
Verwundete auf dem GolanItzhak Brook

Am Abend des dritten Tages fiel der Kommandeur der 7. Syrischen Division, am vierten Tag wurde der syrische Beschuss so heftig, dass die Centurions, es waren hier nur noch etwa ein Dutzend, sich vom westlichen Höhenrücken des Tals etwas zurückzogen. Wenn die Syrer nun über die Geländekante krochen wurden sie wieder leichte Beute, doch ging den Israelis langsam die Munition aus.

Die Kavallerie kam in letzter Sekunde

Als am vierten Tag der Schlacht, dem 9. Oktober, nur noch zehn Centurions den Talrand sicherten, ging einigen davon wirklich die Munition aus, die übrigen hatten noch je etwa zwei Granaten und sie begannen, sich abzusetzen - da traf eine Eingreifreserve von etwa 12 Panzern ein: Es waren die Reste der Barak-Brigade im südlichen Golan, die mittlerweile aufgerieben worden war.

Die Israelis stießen nun wieder vor zum Höhenrücken und feuerten auf die Syrer im Tal. Wenig später zogen diese sich zurück, und zwar entlang der ganzen Länge der Front zur 7. Panzerbrigade. Im Tal der Tränen lagen jetzt mehr als 500 rauchende Panzerwracks, ein paar hundert weitere an anderen Stellen des Golan. Die 7. Panzerbrigade hatte etwa 80 Panzer, also fast alle, verloren.

Zerstörte syrische Panzer am Panzergraben
Zerstörte syrische Panzer am PanzergrabenIDF

Ab 8. Oktober trafen israelische Reserven ein, sie wendeten das Blatt. Die Lücke, die die aufgeriebene Barak-Brigade südlich Kuneitra hinterlassen hatte, wurde gestopft - die Syrer waren hier am weitesten vorgestoßen, bis auf wenige Kilometer vor dem Jordan und See Genesareth.

Ein letzter syrischer Panzerangriff wurde am 9. Oktober geworfen, Tags darauf hatten die Israelis die Ausgangslinie erreicht und gingen in die Offensive: Sie wollten syrisches Gebiet besetzen, als Verhandlungsmasse.

Israelische Kanoniere, die Damaskus beschossen.
Israelische Kanoniere, die Damaskus beschossen.IDF

Eine israelische Panzerdivision und eine Panzergrenadierdivision rollten am 11. Oktober nach Syrien ein, bis sich der Widerstand nach etwa 20 Kilometern versteifte und sie vor der Ortschaft Sa'Sa hielten - das war etwa 35 Kilometer vor Damaskus.

Kanonen beschossen Damaskus 

Von dort aus konnte man Assads Hauptstadt mit Artillerie beschießen, doch tauchten jetzt auch zwei irakische Panzerdivisionen, zwei jordanische Panzerbrigaden und saudische Einheiten auf und begannen mit den Syrern über die nächsten Tage eine Reihe von Angriffen, die die Israelis in die Defensive stürzten. (Jordaniens König hatte Israel diskret angekündigt, er müsse Syrien notgedrungenermaßen in irgendeiner Form helfen, wolle aber keinen Krieg mit Israel - tatsächlich gab es in der Folge keine über das syrische Kampfgebiet hinausgehenden Gefechte zwischen Israel und Jordanien.)

Eine große Gegenoffensive der Araber, für die die Syrer allein fünf Divisionen aufboten, war für den 23. Oktober angesetzt - doch kurz zuvor beschloss Assad, dem Waffenstillstandsaufruf des UN-Sicherheitsrats zu folgen.

Assad an der Front (re.)
Assad an der Front (re.)syrianhistory.com

Und so endete im Wesentlichen der Jom-Kippur-Krieg an der Golanfront. Im Nachhinein wurden zahlreiche Kriegsverbrechen der Syrer bekannt: Man fand mehrere Dutzend israelische Gefangene gefesselt und erschossen vor, viele Gefangene berichteten von schwerer Folter, etwa Elektroschocks an den Genitalien und Verbrennungen.

Luftbrücken aus Moskau und Washington

Die USA und die UdSSR hatten ihre jeweiligen Verbündeten per Luftbrücken mit Waffen versorgt, bis heute besteht die Vermutung, dass ein sowjetischer Frachter, der in Alexandria anlegte, Atomwaffen dabeihatte - man hatte bei seiner Durchfahrt durch den Bosporus eigenartige Spuren von Radioaktivität entdeckt. Zudem fielen in Syrien mindestens 20 sowjetische Offiziere bzw. Militärberater im Gefecht.

Schauplatz Golan
Schauplatz GolanUS Military Academy

Als sich die Niederlage Ägyptens abzeichnete setzten die Russen mehrere Luftlandedivisionen in Alarmbereitschaft und drohten, sie vor Ort abzusetzen. Diese Krise erreichte vor allem wegen des Tauziehens um das Schicksal der 3. ägyptischen Armee einen Höhepunkt: Am 25. Oktober setzten die USA nach sowjetischen Interventionsdrohungen ihre Streitkräfte auf weltweite Alarmbereitschaft, hektische Gespräche zwischen Moskau und Washington entschärften aber die Krise: Breschnew zeigte sich irritiert darüber, dass die USA so „überreagiert" hätten.

Schließlich einigten sich die Supermächte auf eine UN-Friedenstruppe, die den Waffenstillstand vorerst überwachen sollte: Österreich machte in dieser „UNDOF" (UN Disengagement Observer Force) von 1974 bis zum Abzug im heurigen Jahr mit.

Die Opferzahlen des Krieges sind großteils nicht wirklich bekannt. Die Israelis verloren 2500 bis 2800 Mann, mehr als 100 Kampfjets und 400 Panzer (etwa 600 weitere Tanks wurden beschädigt, aber repariert). Die Verluste der Araber dürften 8000 bis 18.000 Tote, 2300 Panzer und 340 bis 515 Flugzeuge betragen - dazu übrigens etwa 19 kleine Kriegsschiffe.

Arabische Ehre gerettet, Israel geknickt

So bizarr es klingt, wird der Jom-Kippur-Krieg auf arabischer Seite als Sieg erachtet, tatsächlich hatte Sadat richtig kalkuliert: Die Anfangserfolge reichten schon zur Rettung der Ehre, vor allem war offensichtlich geworden, dass Israel nicht unverwundbar war. Allerdings war auch klar geworden, dass ein echter Sieg unmöglich sein werde. Umgekehrt fielen jetzt die Israelis in die Depression, wie gesagt, man hatte sich (grundlos) zeitweise vor dem Ende gewähnt.

Golda Meir trat 1974 zurück, ebenso ihre Regierung inklusive des Kriegshelden von 1956 und 1967, Moshe Dayan mit seiner legendären Augenklappe. Meir starb im Dezember 1978.

Nach dem Krieg kam es, vor allem unter US-Vermittlung, zu Entspannung zwischen Israel und Ägypten - Syriens Assad hingegen blieb stur und Friedensgesprächen in Genf im Dezember 1973 fern. 1974 zogen die Israelis ihre Truppen vom Westufer des Suezkanals zurück und in der Folge weiter zurück Richtung Osten. Im November 1977 brach Sadat die Dämme, als er sich selber nach Israel einlud und als erster arabischer Staatschef vor der Knesset sprach und Israels Existenzrecht anerkannte.

Sadat, Carter und Begin in Camp David, 1978
Sadat, Carter und Begin in Camp David, 1978US Government Archives

1979 schlossen Sadat und Israels Premier Menachem Begin den im Jahr zuvor von den USA unter Präsident Jimmy Carter vermittelten Frieden von Camp David: Israels Militär und Siedler verließen den Sinai bis 1982, das Gebiet wurde weitgehend demilitarisiert und kam wieder unter Kontrolle Kairos.

Ägypten galt darauf in der Arabischen Welt lange als Paria, Sadat wurde im Oktober 1981 in Kairo von Islamisten während einer Militärparade ermordet. Moshe Dayan starb nur zehn Tage später eines natürlichen Todes.

Von Herzinfarkt und Wachkoma

General Sharon, der Überquerer des Suezkanals, ging in die Politik, war 2001-06 Premierminister. Im Jänner 2006 fiel er nach einem Schlaganfall in ein Wachkoma und verharrt heute noch darin.

Fallschirmjäger-Oberst Matt, der Sharons Kanalübergang freigeschlagen hatte, ging 1992 als Generalmajor in Pension und leitete lange eine Organisation, die sich um Soldaten kümmert.

Chaim Bar-Lew wurde wieder Minister, Abgeordneter für die Arbeitspartei und Botschafter in Moskau; er starb 1994.

Panzergeneral Kalman Magen starb schon im März 1974 an einem Herzinfarkt.

Avigdor Ben-Gal, Chef der 7. Panzerbrigade auf dem Sinai, wurde General, später Vorstandvorsitzender von Israel Military Industries und einer Firma für militärische Computertechnik.

Ex-General als Diamantensucher in Afrika

Eine tragische Figur wurde Shmuel Gonen, Kommandeur der Südfront: Der unbeliebte Offizier wurde 1974 wegen seiner unglücklichen Führung aus dem Militär gedrängt und quittierte den Dienst. Er setzte sich, berichten Historiker, in die Zentralafrikanische Republik ab und stieg ins Diamantengeschäft ein - um, wie er sagte, genug Geld zu verdienen, sich die besten Anwälte Israels leisten und seine Reputation wiederherstellen zu können, denn Schuld an allem sei Dayan gewesen.

Der kleine, untersetzte Gonen mied Israel und starb im September 1991 während einer Geschäftsreise nach Europa. Man fand bei ihm Landkarten des Sinai, auf denen er während seines Exils im Dschungel Afrikas die Schlachten von 1973 nachgestellt und an neuen operativen Möglichkeiten gearbeitet hatte, wie „sein" Feldzug vielleicht anders verlaufen wäre.

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