Russlands Problem mit dem Hass auf Migranten

Russlands Problem  Migranten
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In Moskau machte ein Mob Jagd auf Einwanderer. Xenophobie ist freilich nur ein Motiv unter vielen. Die anderen liegen im Misstrauen gegenüber einer korrupten Polizei und Justiz.

Montagmorgen in Birjuljowo, dem südlichsten Teil Moskaus: Wie auf einem Schlachtfeld liegen Autos auf dem Dach. Ein Kleinlaster umgeworfen. Dazwischen massenweise Melonen vom angrenzenden Gemüsemarkt, auf dem vorwiegend Zugereiste aus dem Kaukasus und Zentralasien arbeiten, auf dem Boden zerschmettert. Straßensperren sind aus der Verankerung gerissen, Getränkeautomaten umgekippt, die Schaufenster des Einkaufszentrums zerschlagen. Und auch wenn Hundertschaften von Polizisten das Gebiet überwachen, bleibt die Stimmung explosiv. Von 380 Festgenommenen landen mehr als 70 vor Gericht.

Am Sonntagabend war die Situation in Birjuljowo vollends eskaliert. Aus den anfänglich einigen hundert demonstrierenden Russen waren plötzlich einige tausend geworden. Sie hatten sich zu einer Gewalteskalation hinreißen lassen, im nächstgelegenen Einkaufszentrum randaliert und schließlich auch den Gemüsemarkt gestürmt. Unter den 23 Verletzten befinden sich auch sechs Polizisten.

Polizei verhaftet Migranten

Was die Menge derart aufgebracht hatte, war der Mord an dem 25-jährigen Jegor Schtscherbakow, der vorigen Donnerstag vor den Augen seiner Verlobten erstochen worden war. Bildern einer Überwachungskamera zufolge handelt es sich bei dem Täter um einen Mann, der dem Anschein nach aus dem Kaukasus oder Zentralasien stammt. Gesucht werde Orhan S. aus Aserbaidschan, meldeten Agenturen am Dienstag. Er habe seit rund zehn Jahren in der russischen Hauptstadt gelebt und zuletzt als Obst- und Gemüseverkäufer gearbeitet. Die Behörden riefen die muslimische Gemeinde in Moskau zu Hinweisen auf.

Die Wucht der Ereignisse und die Furcht, dass zwischenethnische Spannungen nicht mehr unter Kontrolle zu halten sind, haben in diesem Fall umgehend sogar den Kreml auf den Plan gerufen. Nach einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin erklärte Moskaus Bürgermeister, Sergej Sobjanin, dass ein Spezialstab nicht nur den Gemüsemarkt in Birjuljowo überprüfen und daraufhin über seine Schließung entscheiden werde, sondern auch andere Handelsplätze in Moskau. In einer ersten Razzia wurden 1200 Migranten rund um den Markt Birjuljowo einvernommen.

Die Gewalteskalation rückt einen brisanten Problemmix ins Blickfeld, der in Russland allgegenwärtig, in seiner komplexen Dimension aber nie konsequent angegangen, geschweige denn gelöst worden ist. Da ist zum einen die illegale Migration, die umso mehr blüht, je mehr der russische Arbeitsmarkt gesättigt ist und nach Billigarbeitskräften verlangt. Als Politikum immerhin thematisiert wurde sie von Sobjanin vor den Bürgermeisterwahlen im September – nicht zuletzt freilich, um seinem weitaus charismatischeren und populistischeren Gegenspieler Alexej Navalny den Wind aus den Segeln zu nehmen. Laut Moskauer Polizeichef Anatoli Jakunin wurde heuer 650 Mal Anklage wegen der Organisation illegaler Migration erhoben – im Vorjahr nur 80 Mal.

Dazu gehört ferner, dass im autoritären Staatsgefüge ein Diskurs über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in einem deklariert multikulturellen Staat genauso wenig stattfindet wie über Politik generell. Dies ist umso heikler, als Russland zu den Staaten mit den weltweit stärksten Migrationsströmen zählt, die Ressentiments gegenüber Gastarbeitern außerdem sehr unverhüllt eingestanden werden, weil man laut Umfragen vor allem das Verhalten von Vertretern anderer Nationalitäten als provokant einstuft. Gerade das Verhältnis zwischen Russen und Tschetschenen sowie Georgiern ist durch die jahrelangen Konflikte sehr vergiftet.

Hinzu kommt, dass die Russen wenig Vertrauen in die eigene Polizei und Justiz haben, an Aufklärung nicht glauben und sie vielfach in einem Korruptionsdeal unter einer Decke mit jenem Teil der Einwanderer wähnen, die ihre Identität und Illegalität verbergen wollen – oder überhaupt im Gefängnis sitzen. Auch vor drei Jahren begann der erste große Pogrom in Moskau damit, dass man der Polizei Untätigkeit bei der Aufklärung eines Mordes unterstellte, den ein Kaukasier an einem jungen Russen begangen hatte. Der Pogrom vom Sonntag sei eine Schande, sagte Michail Fedotov, Chef des präsidialen Menschenrechtsrates: Der fehlende Glaube an die Überführung des Mörders aber sei „eine direkte Folge der Korruption, die unseren Staat zerfrisst“.

AUF EINEN BLICK

Migranten in Moskau. Nach den rassistischen Ausschreitungen russischer Randalierer ging die Moskauer Polizei gegen Zuwanderer vor. Bei einer Razzia auf einem Gemüsemarkt der Hauptstadt nahm sie etwa 1200 Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien fest. Ein Mob hatte den Markt am Sonntag gestürmt und damit auf den gewaltsamen Tod eines jungen Russen reagiert, der von einem Mann aus dem Kaukasus erstochen worden sein soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2013)

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