Der Coup des Schlitzohrs: "Genschman" in Geheimmission

Hans-Dietrich Genscher, Michail Chodorkowskij
Hans-Dietrich Genscher, Michail Chodorkowskijimago/ITAR-TASS
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Der deutsche Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher zog hinter den Kulissen die Fäden für die Freilassung Chodorkowskijs.

Kamerateams belagern das exklusive Haus am Pariser Platz im Herzen Berlins, in unmittelbarer Nähe der britischen, russischen und der US-amerikanischen Botschaft, einen Steinwurf entfernt vom Brandenburger Tor. Im Hotel Adlon, der Luxusabsteige der Berühmten, Mächtigen und Reichen, logiert einer, der einst alle drei Attribute vereinte: Michail Chodorkowskij. Und alle Welt wartet darauf, was der 50-jährige russische Ex-Oligarch in einer Pressekonferenz heute Mittag zu sagen hat.

Im Adlon, wo seit Freitagabend Verwandte und Freunde des scharfzüngigen Putin-Kritikers ein- und ausgehen, schließt sich für Chodorkowskij ein Kreis. Im September 2003 hielt er in dem Hotel einen Vortrag, in dem er mit dem korrupten Putin-Russland vehement ins Gericht ging. Von Hans-Dietrich Genscher, dem früheren deutschen Langzeit-Außenminister, verabschiedete er sich damals mit den Worten: „Ich weiß, was mich erwartet.“ Einen Monat später schnappte die Falle der Behörden tatsächlich zu, und für Chodorkowskij begann die Odyssee durch die Straflager Sibiriens und Kareliens.

Aus dem Mantel jenes Mannes, der ihn am Freitag auf dem Berliner Flughafen Schönefeld in Empfang nahm und auf den ersten Metern und Kilometern in Freiheit begleitete, lugte das Markenzeichen Genschers: die Farbe Gelb, die in Deutschland als die Farbe der Liberalen firmiert – und die inzwischen, nach dem erstmaligen Verschwinden der FDP aus dem Bundestag, verblasst ist. Doch Genschers gelbe Pullover und Pullunder finden immer noch großen Gefallen bei Verlosungen.

In den vergangenen Monaten hatte Genscher in Abstimmung mit Kanzlerin Angela Merkel, dem damaligen Außenminister – und Genscher-Schüler – Guido Westerwelle und dem deutschen Botschafter in Moskau, hinter den Kulissen die Fäden für die Freilassung Chodorkowskijs gezogen. In geheimer Mission war er sogar zweimal bei Wladimir Putin höchstpersönlich vorstellig geworden. Zuletzt fädelte er den Überraschungscoup ein: Ein Privatjet des sauerländischen Unternehmers und Genscher-Intimus Ulrich Bettelmann stand in St. Petersburg bereit für Chodorkowskijs Weg ins europäische Exil.


"Genscherismus". Während seiner aktiven Zeit als Außenminister, der er 18 Jahre lang – länger als jeder Europäer – war, galt der gebürtige Ostdeutsche aus Halle als Schlitzohr – und das nicht wegen seiner Segelohren. Für seinen umtriebigen Stil prägte die Diplomatie den Begriff „Genscherismus“: Leutselig und mit entwaffnenden Witzen charmierte er den russischen Amtskollegen Andrei Gromyko, einen Hardliner. Und wie Henry Kissinger verbrachte Genscher, so die Fama, mehr Zeit in der Luft als am Boden. So als umgäbe ihn die Aura eines Superhelden, verpasste ihm das Satiremagazin „Titanic“ den Spitznamen „Genschman“.

Den Zenit erreichte er im September 1989, als er auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag 4000 auf dem Botschaftsareal untergebrachten DDR-Flüchtlingen die Freiheit verkündete. Mit den Idealen der Freiheit nahm es der Elder Statesman nicht stets so genau wie zur Zeit der „Wende“. Als Lobbyist machte er sich jüngst mit Diktatoren vom Schlag des Kasachen Nursultan Nasarbajew gemein, auf Aserbaidschans verstorbenen Despoten Heydar Alijew sang er ein Loblied.

Intern ist der FDP-Guru als intriganter Drahtzieher verschrien, der alle Erben fallen ließ – so wie der Techniker der Macht als Vizekanzler im Herbst 1982 die sozialliberale Koalition platzen ließ, um mit fliegenden Fahnen zur Union Helmut Kohls überzulaufen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2013)

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