Ukraine: „Fortführung der Revolution von '89“

Mykola Rjabtschuk
Mykola Rjabtschuk(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Essayist Mykola Rjabtschuk sieht die ukrainische Protestbewegung als späte Folge der mitteleuropäischen Umbrüche. Die Entwicklung Richtung Westen sei „unaufhaltbar“.

Die Presse: Immer wieder hört man von einer möglichen Teilung der Ukraine oder einer Sezession einzelner Regionen. Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses Szenario?

Mykola Rjabtschuk: Ich glaube nicht daran. Schon bei der Orangen Revolution wurden solche Gerüchte gestreut. Doch weder Elite noch Bürger unterstützen das. Die Menschen mögen geteilter Meinung sein über die Geschichte der Ukraine, aber sie sind patriotisch gesinnt. Manchmal hört man: Die anderen sollen verschwinden. Aber wir bleiben! Auch die Elite unterstützt die Idee der staatlichen Einheit; jedes autoritäre Regime ist daran interessiert. Letztlich hängt es davon ab, wie weit Russland in dieser Frage geht.

Aber Russland kokettiert doch auch eher nur damit.

Ja, es ist eher ein Bluffen – aber auch unvorhersehbar. Moskaus Hauptidee ist, das Land instabil, schwach und uneins zu halten. Das nützt der russischen Führung am meisten.

An der von Ihnen skizzierten Entwicklung ist auch abzulesen, dass die nationale Identität gewachsen ist – trotz aller Krisen der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Ja, aber die Identitätsspaltung ist nicht so einfach zu überwinden. Das Land ist geteilter Meinung über eine fundamentale Frage: Sollen wir die Sowjetvergangenheit glorifizieren oder sie als totalitär ablehnen? In dieser Frage gibt es eine Korrelation mit Ethnizität und Sprache, aber keine Abhängigkeit. Das Bild ist nicht schwarz-weiß.

Westliche Beobachter sind oft besorgt, was den Nationalismus der Protestbewegung betrifft. Zu Recht?

Der Maidan ist eine Fortführung der osteuropäischen Revolutionen von 1989/1990. Es ist ein Versuch, diese Entwicklung, die bei uns unvollendet geblieben ist, zu vollenden. Zweimal haben wir es nicht geschafft, nun versuchen wir es ein drittes Mal. Natürlich waren diese Revolutionen – etwa in Polen – nicht nur antiautoritär, sondern auch antikolonial: gegen die Moskauer Dominanz gerichtet. So ist es jetzt auch in der Ukraine. Da nehmen viele verschiedene Gruppen daran teil, verbündet gegen den gemeinsamen Feind. Es ist auch eine Bewegung zur nationalen Befreiung, und natürlich ist diese nationalistisch. Das ist unvermeidbar.

Es gibt vor allem Bedenken wegen der Partei Swoboda und anderer rechtsradikaler Gruppen.

Es gibt dubiose Strömungen dort, und eine Spaltung wird unvermeidbar sein. Aber das sollte nicht jetzt geschehen, sondern dann, wenn das Regime weg ist. Wir sollten diese Gruppen kritisieren, wenn sie xenophobe Statements von sich geben. Aber sie sind derzeit angetrieben von der unvollendeten nationalen Befreiung, nicht von Xenophobie und Antisemitismus.

Was ist ein Weg aus der Krise?

Es wäre gut, wenn internationaler Druck dazu führt, dass eine breite Koalitionsregierung gebildet wird. Die alte Verfassung von 2004 sollte wieder eingesetzt werden.

Aber wird die Elite dieser Beschränkung der eigenen Macht zustimmen?

Vielleicht nicht Janukowitsch und seine „Familie“ aus Nutznießern. Als Neureiche haben sie noch nicht genug Reichtum angesammelt. Vermutlich sind sie auch zu provinziell, um die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen. Aber die großen Oligarchen haben schon genug Geld und Eigentum. Sie könnten Stabilität bevorzugen und den politischen Prozess vorantreiben.

Ihre Hypothese ist, dass die „westliche Wende“ in der Ukraine unausweichlich ist, da es – grob gesagt – eine Generations- und Bildungsfrage ist. Gibt es aber auch im Osten des Landes dahingehend Veränderungen?

Ich sehe signifikante Veränderungen: Früher gab es keine prowestlichen Demos im Osten, jetzt schon. Das sind mutige Menschen, die daran teilnehmen, sie leben gefährlich. Das ist eine Beobachtung. Eine andere: In der Kernregion der Partei der Regionen, in Donetsk, finden wir 20 Prozent, die die EU-Annäherung unterstützen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen proeuropäischer Einstellung und Ausbildung und Alter: je jünger und besser ausgebildet, desto prowestlicher. Bei den Protesten geht es nicht ums Überleben, sondern um Selbstverwirklichung. Es ist also eine Frage der Zeit, bis Janukowitsch seine Anhänger verliert.

Wird der jetzige Maidan ausreichen, um diese großen Veränderungen zu bewegen?

Janukowitsch kann diesen Prozess nicht stoppen. Vielleicht muss es noch einen weiteren Maidan geben. Ich würde diese Dinge aber gern jetzt zu Ende bringen.

ZUR PERSON

Mykola Rjabtschuk ist ein ukrainischer politischer Analyst und Essayist. Veröffentlichungen: „Die reale und die imaginierte Ukraine“, „Gleichschaltung. Authoritarian Consolidation in Ukraine, 2010–2012“. Er ist derzeit Stipendiat am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (IWM).

Politischer Salon mit Mykola Rjabtschuk zum Thema „Ukraine, Maidan und die Zukunft Europas“. Mittwoch, 19. 2., 18.30 Uhr, IWM, 9., Spittelauer Lände 3.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2014)

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