Schlachtfeld Kiew: Neuwahl als Ausweg?

Anti-government protesters detain a policeman during clashes in the Independence Square in Kiev
Anti-government protesters detain a policeman during clashes in the Independence Square in KievREUTERS
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Kiew im Kugelhagel von Scharfschützen, die Opposition spricht von bis zu 100 Toten. Gefolgsleute von Präsident Janukowitsch verlassen reihenweise die Partei, er selbst bot noch für 2014 eine Präsidenten- und Parlamentswahl an.

Am Donnerstag waren es nicht mehr die Regierungsgegner, die sich vor den Sicherheitskräften verbarrikadierten. Im Kiewer Regierungsbezirk türmte die Staatsmacht neue massive Straßensperren aus Beton auf, um das von den Demonstranten bedrängte Viertel zu schützen. Der Sitz des Präsidenten und der Ministerrat wurde evakuiert, es war zu gefährlich geworden. Im Regierungsbezirk lieferten sich Scharfschützen der Spezialeinheit Berkut und bewaffnete Regierungsgegner Schießereien.

Bezeichnend für immer mehr in einen bewaffneten Straßenkampf abgleitende Lage in Kiew war, dass das erste Treffen von Präsident Viktor Janukowitsch mit den drei EU-Außenministern Frank-Walter Steinmeier (Deutschland), Radek Sikorski (Polen) und Laurent Fabius (Frankreich) an unbekanntem Ort stattfinden musste. Nach stundenlangen Gesprächen – unterbrochen von einem Telefonanruf Janukowitschs bei Russland Präsidenten Putin – ein erster Erfolg: Janukowitsch sei zu einer vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl noch 2014 bereit, hieß es von polnischer Seite. Damit wäre eine zentrale Forderung der Opposition erfühlt. Zudem solle binnen zehn Tagen eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet werden. Finden die Wahlen zeitnah statt, könnte dies einen Ausweg weisen. Die EU-Troika blieb in Kiew, um die ganze Nacht weiterzuverhandeln. Oppositionsführer Vitali Klitschko dementierte allerdings, dass es bereits eine Einigung gebe.

Leichen auf dem Maidan aufgebahrt

Es war der dritte Tag der blutigen Unruhen. Nach einer kurzen Waffenruhe, die die Opposition mit Janukowitsch am späten Mittwochabend vereinbart hatte, war es am Morgen erneut zu Scharmützeln auf dem Maidan gekommen. Die Opposition machte die Sicherheitskräfte dafür verantwortlich. In Kiews Straßen kam es zu dramatischen Szenen: Scharfschützen zielten offenbar auf Demonstranten; auch Rettungskräfte wurden dabei verletzt. Demonstranten versuchten, verwundete Aktivisten von den Straßen zu bergen. Geschützt von Schildern näherten sie sich Verletzten und trugen sie unter Lebensgefahr weg. Rechtsextreme Gruppen riefen immer energischer zur Bewaffnung auf. Am Nachmittag brachten Regierungsgegner offenbar 67 Polizisten in ihre Gewalt. Das Innenministerium forderte bewaffnete Verstärkung der Sondereinheit Berkut an.
Über die Zahl der Toten vom Donnerstag kursierten verschiedene Versionen. Die offizielle Zahl stand am Abend bei 75. 58 Leichen waren bereits identifiziert, zehn davon waren Sicherheitskräfte, der Rest Oppositionsanhänger. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, auf dem ein Teil der Regierungsgegner nach wie vor ausharrt, waren die Leichen von mehr als 20 Menschen aufgebahrt, die Körper mit ukrainischen Fahnen bedeckt.

Gerüchte über Absetzbewegung

Je höher die Zahl der Opfer, desto unversöhnlicher stehen sich die Lager gegenüber. Doch Präsident Viktor Janukowitschs Macht bröckelt. Nicht nur international sieht er sich Sanktionen und einem Waffenembargo ausgesetzt, auch im Land zerfällt seine Machtbasis: Prominente Mitglieder seiner Partei der Regionen sagten sich gestern vom Staatsoberhaupt los. Eine Gruppe von zwölf Parlamentsabgeordneten brach mit der Fraktionsführung und erklärte, fortan „auf der Seite des Volkes“ zu stehen. Auch der Kiewer Bürgermeister, Vladimir Makeenko, schied aus der Partei der Regionen aus. Am Abend gab es Gerüchte, dass sich der Parlamentspräsident ebenso abgesetzt hatte wie Rinat Achmetow, reichster Mann der Ukraine und eng mit Janukowitsch. Regimegegner riegelten die Zufahrt zum Flughafen ab, ließen Autos erst nach einer Kontrolle passieren, um die Flucht von Regime-Kräften zu verhindern.

Am Nachmittag begann eine Sondersitzung des Parlaments. Sollte sich eine Mehrheit für eine Verfassungsreform, die Janukowitschs Macht begrenzt, finden, könnte das die Ukraine womöglich vor einem Gewaltexzess retten. Angesichts der zunehmenden Gewalteskalation steht die Ukraine vor einer Zerreißprobe. In mehreren Städten im Westen stürmten Demonstranten Stadtverwaltungen oder Polizeidienststellen. Die Lokalregierung der Region Transkarpatien, die an Rumänien und Ungarn grenzt, erklärte sich für „autonom“. Die Macht Janukowitschs habe hier keine Geltung mehr. Aussagen, die den Präsidenten aufrütteln sollten. Doch er hält offenbar bis zuletzt an seiner Macht fest.

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