Das zerrissene Land an der Grenze

Poland's FM Sikorski, German counterpart Steinmeier, Ukraine's opposition leaders Klitschko and Yatsenyuk prepare to leave after signing an EU-mediated peace deal with President Yanukovich in Kiev
Poland's FM Sikorski, German counterpart Steinmeier, Ukraine's opposition leaders Klitschko and Yatsenyuk prepare to leave after signing an EU-mediated peace deal with President Yanukovich in Kiev(c) REUTERS
  • Drucken

Die Ukraine, einst als Großreich die Wiege des Russentums, war danach für Jahrhunderte unter fremden Mächten aufgeteilt. Auch Österreich war ein Teil davon, Galizien, zugefallen.

Dass neben dem deutschen Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, und seinem französischem Amtskollegen, Laurent Fabius, auch der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski Teil der nach Kiew geschickten Troika war, die dem ukrainischen Staatspräsidenten Zugeständnisse abrang, hatte auch eine gewisse historische Symbolkraft. Polen ist nicht nur ein Nachbarstaat der Ukraine, ein Großteil der Ukraine war einst auch ein Teil Polens.

Genauer gesagt der Union Polen-Litauen. Ein Großreich, das Elemente einer Republik hatte, in Polen daher auch „Rzeczpospolita“ genannt wird, und von 1569 bis 1795 existierte. Der kleinere, östliche Teil der Ukraine war damals russisch, im Süden gab es das unter osmanischer Schirmherrschaft stehende Krim-Khanat. Es war die Heimat der muslimischen Krimtataren. Später, nach einem Kosakenaufstand, wurde das Gebiet westlich des Dnjepr litauisch-polnisch, das östliche russisch.

Als im Nordwesten der litauisch-polnischen Adelsrepublik dann das bis dahin unbedeutende Preußen erstarkte und das russische Zarenreich seine Expansionsgelüste nicht mehr im Zaum halten konnte, war es um die litauisch-polnische Union geschehen. Am Ende der „drei polnischen Teilungen“ war die Ukraine fast zur Gänze Russland zugeschlagen. Mit Ausnahme Galiziens, das zu Österreich kam. Ruthenen nannten die Österreicher ihre Ukrainer. Nach Lemberg, Galiziens Zentrum, war es von Wien aus näher als nach Bregenz.

Die russische Fremdherrschaft

Die russische Herrschaft wurde – obwohl gerade im Osten des Landes viele Russen lebten – von vielen Ukrainern als Fremdherrschaft empfunden. Eine Dichotomie, die bis heute nachwirkt. Vereinfacht gesagt: da der nach Europa hin orientierte Westen der Ukraine, repräsentiert von den Timoschenkos und Klitschkos. Dort der nach Russland hin orientierte Osten, repräsentiert von den Janukowitschs.

Wie in fast allen Staaten Europas erwachte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in der Ukraine der Nationalismus. Die in der Folge entstandene ukrainische Nationalbewegung wurde auch vom Deutschen Reich unterstützt – zur Schwächung Russlands. Insbesondere während des Ersten Weltkriegs. Daher war es später nur noch ein kleiner Schritt für viele sezessionistisch gesinnte Ukrainer hin zur Unterstützung der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

Nach der Russischen Revolution 1917 war die Ukraine für eine kurze Zeit selbstständig – ehe sie in die Sowjetunion eingegliedert wurde. Ein kleinerer Teil kam zu Polen. Die widerständigen Ukrainer wurden vom Sowjetregime brutal unterdrückt. Obwohl die Ukraine als „Kornkammer Europas“ galt, verhungerten die Menschen. Die Kornkammer wurde vom Sowjet-Zentralstaat geplündert. Diesem Massenmord fielen 3,5 Millionen Menschen zum Opfer. Stalin zeigte sein brutales Gesicht – auch wenn viele linke Intellektuelle in Westeuropa dies nicht wahrhaben wollen.

Falsche Hoffnungen in die Nazis

Und so setzten nicht wenige Ukrainer ihre Hoffnungen, dem einen Massenmörder zu entkommen, in den nächsten Massenmörder. Diese wurden allerdings enttäuscht. Denn die Ukraine wurde letztlich kein eigener Staat von Adolf Hitlers Gnaden, dafür aber zu einem Hauptschauplatz des Zweiten Weltkriegs. Und hier, wo seit Jahrhunderten vergleichsweise viele Juden beheimatet waren, gab es auch dementsprechend viele Opfer. Exemplarisch dafür steht das Massaker von Babi Jar am 29. und 30. September 1941, bei dem mehr als 33.000 Juden ermordet wurden.

Die Hoffnung auf einen eigenen Nationalstaat blieb den Ukrainern auch nach dem Zweiten Weltkrieg verwehrt. Sie musste sich mit dem Status einer Sowjetrepublik begnügen. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion konnten sie 1991 das russische Joch abschütteln – was freilich nicht alle so empfanden, vor allem nicht der russischsprachige Teil der Bevölkerung. Die Ukraine wurde unter ihrem ersten Präsidenten Leonid Krawtschuk ein eigener Staat.

Die Kiewer Rus

Dabei galt die Ukraine einst sogar als die Wiege des Russentums. Die Kiewer Rus war das erste „russische“ Großreich. Gegründet wurde es im 9. Jahrhundert n. Chr. von den Wikingern – im ukrainisch-russischen Sprachgebrauch Waräger genannt. Slawische Stämme siedelten sich an. Unter Wladimir dem Großen wurde das Land christlich-orthodox. Im 13. Jahrhundert wurde das Reich der Kiewer Rus dann von den Mongolen zerstört.

Deren Einzelteile dann von den Russen auf der einen, und den Polen auf der anderen Seite zusammengetragen wurden. Eine Teilung, die nie wirklich überwunden werden sollte. Die Grenze im Land geht bis zum heutigen Tag mittendurch. Nomen est omen, könnte man sagen: „Ukrajina“ heißt wörtlich übersetzt „an der Grenze“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.