Ukraine: Demokratie mit anarchischer Note

(c) REUTERS (Konstantin Chernichkin)
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Während vor dem Parlament Demonstranten Forderungen skandieren, beschließen die Abgeordneten drinnen, Ex-Präsident Janukowitsch an den Haager Strafgerichtshof zu überstellen.

Der Geräuschpegel ist an diesem Dienstag hoch, innerhalb und außerhalb der weißen Mauern der Werchowna Rada. Vor dem Kiewer Parlament haben sich Bürger versammelt, sie diskutieren und zetern, fordern Aufarbeitung und Gerechtigkeit. „Wir haben auf der Straße gekämpft“, sagt Volodymyr aus Kiew, seinen Nachnamen will er nicht nennen. „Jetzt müssen die da drinnen auf uns hören.“ Die da drinnen – das sind die 450 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments.

Die sind an diesem Vormittag ebenso lautstark mit sich selbst beschäftigt. Die Parlamentarier debattieren ein Gesetz, wonach Expräsident Viktor Janukowitsch und andere Vertreter der früheren Regierung an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert werden sollen.

Den Gerichten in der Ukraine traut man kein objektives Urteil zu. „Ein unabhängiges Gericht ist notwendig, um diese Fälle zu behandeln“, ruft Oleg Ljaschko, ein nationalistischer Abgeordneter aus Czernowitz, mit tiefer, durchdringender Stimme ins Plenum. Dann zählt er genüsslich die Namen der Missetäter auf, die dem Tribunal übergeben werden sollen: Expräsident Janukowitsch, der die etwa 100 Toten der Unruhen zu verantworten habe, der Leiter der Präsidialadministration, Andrej Kljujew, der noch immer auf der Flucht und angeschossen worden sein soll, Exinnenminister Valeri Sachartschenko, Expremier Mykola Asarow, Expremier Sergej Arbusow, Exgeneralstaatsanwalt Viktor Pschonka und einige weitere.

Keine Gegenstimmen

Kritische Stimmen, ob das Gesetz durchdacht ist und man nicht doch zunächst den innerstaatlichen Weg gehen sollte (abgesehen von der Frage, ob man der Flüchtigen jemals habhaft wird) werden niedergemault. Das Kiewer Parlament, wie es leibt und lebt: Demokratie hat hier eine anarchische Note. Das Plenum beschließt das Gesetz mit 339 Ja-Stimmen und 23 Enthaltungen. Es gibt keine Gegenstimmen. Die Abgeordneten der Partei der Regionen ducken sich in ihren Reihen, während der Debatte ergreifen sie nicht das Wort. Die Gefahr ist groß, als Verteidiger Janukowitschs dazustehen – und das will jetzt niemand.

Die Lage ist sowieso fatal: 76 Abgeordnete haben die 203 Mann starke Fraktion verlassen. Fraktionschef Alexander Jewremow spricht gegenüber der „Presse“ von politischem Druck: „Die Angst geht um. Ehefrauen und Kinder werden eingeschüchtert, Eigentum zerstört.“ Er hofft auf einen Neustart: Für Anfang März ist ein Parteitag geplant, ein neuer Chef und ein Präsidentschaftskandidat sollen gewählt werden. In Den Haag hat man noch kein offizielles Ansuchen aus Kiew erhalten. Langt ein solches ein, entscheiden die Juristen des Tribunals selbst, ob sie Ermittlungen aufnehmen oder nicht.

Klitschko kandidiert

In Kiew will die durch die Umbrüche an die Macht gespülte Opposition den Einfluss der Partei der Regionen auf ein Minimum reduzieren. Aber die Aktivisten des Maidan haben auch hier eigene Vorstellungen, wie das ablaufen soll. Der „Kreis des Maidan“ hat Kriterien für die künftigen Regierungsmitglieder formuliert, darunter: Sie dürften nicht zu den 100 reichsten Ukrainern zählen, keine Funktion in der Präsidentschaftsadministration ausgeführt haben, und müssen mindestens sieben Jahre politische Erfahrung haben.

Solange die Aktivisten keine Gewissheit haben, dass die Parlamentarier auf sie hören, werden sie die Zelte nicht abbauen. Sie könnten bis nach der Präsidentenwahl am 25. Mai auf dem Maidan bleiben, immerhin: Es wird ja wärmer.

Die Forderungen der Aktivisten und ihre mögliche personelle Einbeziehung in das neue Kabinett ist einer der Gründe, warum die Wahl der Regierung auf Donnerstag verschoben wurde.

Als wahrscheinlichster Premier gilt Arseni Jazenjuk, bisheriger Fraktionschef von Julia Timoschenkos Vaterlandspartei und einer der drei Oppositionsführer (siehe Interview). Timoschenko selbst will für das Präsidentenamt kandidieren – ebenso wie Vitali Klitschko, Chef der Partei Udar („Schlag“).

„Herr erbarme dich unser“

Lange nachdem die Abgeordneten das Parlament verlassen haben, stehen die Bürger noch draußen vor den Mauern. Sie beten und singen. „Herr erbarme dich unser“, lauten jetzt ihre Worte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2014)

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