Moskau erhöht den militärischen Druck und gibt Janukowitsch Asyl

Auf der Krim besetzten prorussische Bewaffnete das Parlament. Die Lage spitzt sich weiter zu.

So zurückhaltend sich Russland in den ersten Tagen des ukrainischen Umsturzes verhalten hat, so aktiv mischt es sich nun in den Gang der Dinge ein: Am Donnerstag gewährte Moskau nicht nur dem gestürzten Präsidenten, Viktor Janukowitsch, offiziell Unterschlupf, es intensivierte auch sein Säbelrasseln und setzte Kampfflugzeuge in Alarmbereitschaft. Und auf der ukrainischen Halbinsel Krim besetzten prorussische Bewaffnete kurzerhand das Parlament. Während sich also die Lage in Kiew beruhigt, entwickelt sich die Krim immer mehr zum Zentrum der Auseinandersetzungen.

Einer der vielen Bewohner der Krim, die offen mit Moskau sympathisieren, ist Kirill Below: Er ist schon Mittwochnachmittag im Café Nostalgie in der Rosa-Luxemburg-Straße in der Hauptstadt Simferopol gesessen und hat mit Gesinnungsgenossen die Livebilder der zwei Demonstrationen pro- und antirussischer Kräfte vor dem Regionalparlament verfolgt. Seine Hoffnung, dass die Parlamentarier drinnen unter dem Druck der Straße („Sie werden nach der Sitzung wieder aus dem Gebäude kommen, und sie werden sich uns gegenüber verantworten müssen“) Beschlüsse fällen würden, die auf eine Unabhängigkeit der Halbinsel von Kiew hinauslaufen würden, hat sich zunächst aber zerschlagen, die Sitzung wurde wegen nicht vorhandenen Quorums abgesagt.

Russische Flagge gehisst

Die Stimmung blieb friedlich, bis gegen drei Uhr früh einige Dutzend schwer bewaffnete Männer, die nach Medienangaben mit einem Lastwagen mit Sewastopoler Kennzeichen (in der Hafenstadt ankert ein Teil der russischen Schwarzmeerflotte) gekommen waren, das Gebäude der Lokalregierung und des Parlaments stürmten und bei Letzterem eine russische Flagge hissten. Hunderte Anhänger von Russenparteien marschierten dann am Donnerstag, teils in Kolonnen, zum Parlament. Auch Kirill Below war dabei. Viktor Janukowitsch habe in einem Erlass eine Intervention Russlands auf der Krim gefordert, erzählt er.

Die Besetzung des Parlaments sei ein erster Schritt: „Wir waren zwar nicht im Parlament. Aber da die russische Flagge weht, gehen wir davon aus, dass sich die ,russische Seite‘ im Gebäude befindet.“ Trotz der Präsenz Bewaffneter wurde eine Sondersitzung einberufen. Der Abgeordnete Sergej Schuwajnikow von der Russischen Einheitspartei hat mit den Bewaffneten kein Problem: „Ich habe mit ihnen ruhig geredet. Sie sprechen Russisch, wir verstehen einander.“ Die Hälfte der Besetzer sei maskiert, andere ganz normal gekleidet, sagte Schuwajnikow: „Sie sind sehr gut vorbereitet und haben gute Waffen, das kann ich als ehemaliger Soldat bestätigen“, sagte er.

Russische Jets in Kampfbereitschaft

Immer mehr Demonstranten strömten am Nachmittag herbei, die meisten mit Georgsbändchen, als Ausdruck des russischen Patriotismus. Im Unterschied zu Mittwoch fehlte die Gegendemo der Krim-Tataren aber völlig. Deren Sprecher Ali Chamsin meinte, nun seien Sondereinsatztruppen gefragt, denn dies sei eine Spezialoperation russischer Geheimdienste. Gleichzeitig erklärte er, dass es sich um eine Verschwörung von Parlamentspräsident Wladimir Konstantinow und Regierungschef Anatoli Mogiljow handeln könnte, die nun jene „separatistischen Beschlüsse“ fällen wollten, die wegen der Tatarengroßdemonstration tags zuvor nicht zustande kamen.

Mitten in dieser angespannten Situation hat Russland seine Truppenübung im Westen des Landes noch ausgeweitet. Mehr als 150.000 Soldaten aus verschiedenen Waffengattungen sind beteiligt, dazu bis zu 90 Flugzeuge und 80 Schiffe. Als Teil der Übung patrouillieren zudem Kampfjets in Gefechtsbereitschaft an der russischen Grenze und führen Manöver durch.

Generäle bestätigen Ukraine-Konnex

Zwar hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu jeglichen Zusammenhang des Manövers mit den Umwälzungen in der Ukraine bestritten. Und obwohl der Kreml vergangenes Jahr seine Truppen mindestens sechs Mal auf ihre Kampfbereitschaft getestet hatte, darunter im Juli in der größten Truppenübung seit Ende der Sowjetunion mit 160.000 Mann, ist der jetzige Zeitpunkt sicherlich nicht zufällig gewählt. So geht es einerseits um ein Signal an die russischsprachige Bevölkerung auf der Krim, die um ihre Rechte fürchtet. Zudem ist Donnerstagnachmittag in Kiew die Übergangsregierung vom Parlament bestätigt worden, die Moskau nicht anerkennt.

Die offizielle Lesart für die Truppenübung wird sogar von Teilen des Militärs bestritten: Mehrere Generäle haben der russischen Zeitung „RBK Daily“ bestätigt, dass der Einsatztest unmittelbar auf die Ereignisse im Nachbarland zurückzuführen sei. Putin hat ihn einen Tag nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates angeordnet, bei der über die Ukraine diskutiert wurde. Hochrangige russische Politiker haben derweil die Möglichkeit eines Militäreinsatzes zurückgewiesen: „Ein solches Szenario ist unmöglich“, sagte Valentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates in Moskau. Gleichwohl gewinnt aber etwa ein Gesetzesvorschlag, wonach Ukrainer im Schnellverfahren die russische Staatsbürgerschaft erhalten können, Unterstützung im russischen Parlament.

Janukowitsch gibt Pressekonferenz

Rechtzeitig zur Vereidigung des Übergangskabinetts in Kiew hat auch der abgesetzte Präsident Janukowitsch sein Schweigen gebrochen. Die drei großen russischen Nachrichtenagenturen haben ein Schreiben erhalten, in dem er angesichts von Extremismus in der Ukraine um den Schutz des Kremls bat. Unter Berufung auf Regierungskreise berichtete Interfax, dass Janukowitsch das Ansuchen auf russischem Territorium gestellt habe. Medien berichteten, er soll sich in einem Sanatorium nahe Moskau aufhalten. Wann er genau dorthin gelangt ist, ist unbekannt. Am Freitag will er sich bei einer Pressekonferenz in der Stadt Rostow am Don zu Wort melden.

Seit seiner Absetzung durch das Parlament am Samstag wurde über Janukowitschs Aufenthaltsort spekuliert. Noch am Mittwoch sprach die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft von Informationen, wonach sich Janukowitsch noch im Land befinden soll. Auch der Kreml hatte Berichte über einen Aufenthalt des abgesetzen Präsidenten in Moskau verneint. Janukowitsch ist freilich nicht der einzige ukrainische Politiker, der im Nachbarland Zuflucht gefunden hat. Sicherheitskräften zufolge habe auch Ex-Premier Mykola Asarow die Ukraine Richtung Russland verlassen.

AUF EINEN BLICK

Viktor Janukowitsch hat erstmals seit Tagen ein Lebenszeichen von sich gegeben: Der abgesetzte Ex-Premier der Ukraine ist offenbar nach Russland geflüchtet und wird heute, Freitag, in Rostow am Don eine Pressekonferenz geben. Laut Angaben aus Sicherheitskreisen hat er Russland um Hilfe wegen der „extremistischen Aktivitäten“ in der Ukraine gebeten – bereits von russischem Boden aus. Auch Ex-Premier Mykola Asarow, der von Janukowitsch noch als Bauernopfer entlassen worden war, soll sich in Russland aufhalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2014)

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