Israel: Massengebet gegen Wehrpflicht

 ISRAEL PROTEST BELIEF ULTRA ORTHODOX
ISRAEL PROTEST BELIEF ULTRA ORTHODOX(c) APA/EPA/ABIR SULTAN (ABIR SULTAN)
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Hunderttausende Ultraorthodoxe protestierten gegen ein Gesetz, das auch Strenggläubige zum Armeedienst zwingt. Liberalen Kritikern geht die Regelung allerdings nicht weit genug.

Jerusalem. Hunderttausende Männer, fast alle in schwarzen Anzügen und mit Hut, legten in mehreren Jerusalemer Wohnvierteln komplett den Verkehr lahm. Der Kundgebung schlossen sich auch ein paar tausend Frauen an: Die ultraorthodoxen Jüdinnen versammelten sich in der für sie von den Rabbinern vorgesehenen Parallelstraße – um den „angebrachten“ Abstand zu den Männern zu bewahren.

Der Kampf der israelischen Ultraorthodoxen gegen die Wehrpflicht geht kurz vor Verabschiedung der Gesetzesreform Mitte März in die letzte Phase. Nicht um zu demonstrieren, sondern zum Massengebet seien sie gekommen, betonten sie: „Wir wenden uns an Gott, den Gesegneten“, rief einer der Strenggläubigen, bei denen die bevorstehende Reform zur Wehrpflicht apokalyptische Visionen heraufbeschwört: Düster war auch das Motto ihrer frommen Gesänge, die von schrecklicher Zerstörung, Angst und Blut, das „wie Wasser“ fließe, handelten. Der gelbe Stern und KZ-Uniformen, wie sie bei früheren Demonstrationen gegen die Wehrpflichtreform auftauchten, gab es diesmal nicht. Stattdessen kamen ein paar Dutzend Kinder im Kostüm des kürzlich verstorbenen Rabbiners Ovadia Jossef.

„Zionismus hat gesiegt“

Bis Mitte des Monats soll das Parlament über die neuen Regeln entscheiden. Die Rechtsreform ist lange überfällig. Schon vor zwei Jahren hatte der Oberste Gerichtshof in Jerusalem die seit Staatsgründung gültige Freistellung von Talmudschülern als rechtswidrig erklärt. Mit der wachsenden orthodoxen Bevölkerungsgruppe in Israel wuchs auch der Unmut derer, die an der Front ihr Leben riskieren, während sich andere daheim ihrem Studium hingeben.

Jair Lapid, Finanzminister und Chef der Zukunftspartei, hat das Thema zu einem der Kernpunkte seines Wahlkampfes gemacht. „Der Zionismus hat gesiegt“, bejubelt er nun die künftige Regelung. Laut dem Gesetz müssen künftig auch strengreligiöse Rekruten ins Gefängnis, wenn sie den Wehrdienst verweigern. Denn jeder, der den Einrückungstermin verpasst, gilt demnach automatisch als Deserteur. Doch auch die geplante Neuregelungen ist von einer Gleichbehandlung aller israelischen Bürger weit entfernt: Nur Ultraorthodoxe können sich für mehrere Jahre zurückstellen lassen, und nur für Ultraorthodoxe besteht die Alternative des Zivildienstes.

„Im Grunde hätten die Wähler der Zukunftspartei die Straßen von Jerusalem blockieren müssen“, schreibt Kommentator Jair Ettinger in der Tageszeitung „Haaretz“. Das „Forum für gleiche Belastungen“ spricht vom „Bluff des Jahrhunderts“. Die geplante Reform verschlimmere die Kluft der Pflichten zusätzlich, sagt Sahara Berger Zur, Sprecherin der Bürgerinitiative. „50.000 Ultraorthodoxe können dadurch die Jeschiwa (Talmudhochschule) verlassen, ohne dem Staat etwas zu schulden.“ Denn Nebeneffekt der Wehrdienstreform hätte sein sollen, Strenggläubige über den Umweg der Armee in die Gesellschaft und vor allem in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Reform sieht nun aber vor, dass Talmudstudenten, die die Jeschiwa verlassen, sich vom Militärdienst zurückstellen lassen und eine Arbeit aufnehmen können. Erschwerend kommt außerdem dazu, dass die Reform erst ab 2017 volle Gültigkeit haben soll. „Welcher demokratische Staat verabschiedet heute ein Gesetz, das erst in vier Jahren in Kraft tritt?“, fragt Bürgerrechtlerin Berger Zur.

Angst vor Konfrontation

Trotz aller Hintertürchen, die die Politiker aus Sorge vor einer Konfrontation mit frommen Rekruten offen ließen, zürnt der ultraorthodoxe Sektor. In diesem Punkt sind sich orthodoxe Strömungen von national bis antizionistisch einig: „Es darf nicht sein, dass ein frommer Jude von frommen Büchern getrennt wird.“

AUF EINEN BLICK

Ultraorthodoxe Juden verweigern den Armeedienst mit der Begründung, er erschwere die Ausübung ihres Glaubens. In der Armee gibt es etwa keine Trennung zwischen Männern und Frauen und Einsätze am Samstag, dem religiösen Ruhetag. Vor zwei Jahren hat Israels Höchstgericht entschieden, dass diese Freistellung vom Militärdienst verfassungswidrig ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2014)

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