Kiewer Regierung gibt Halbinsel Krim militärisch auf

Kiew, Krim
Kiew, Krim(c) APA/EPA/YURI KOCHETKOV (YURI KOCHETKOV)
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Übergangspräsident Turtschinow macht sich für den Schutz der ukrainischen Ostgrenze stark. An zwei Fronten könne die Armee nicht kämpfen. Zahlenmäßig sind die Ukrainer den Russen um vieles unterlegen. Außerdem liegt die Mehrheit ihrer Basen im Westteil des Landes.

Wien/Kiew. Nach zweiwöchiger Belagerung der Krim durch russische Truppen hat erstmals ein ukrainischer Politiker das Offensichtliche ausgesprochen: Die Ukraine wird die Krim nicht verteidigen. „Wir können keine militärische Operation dort starten, weil dann unsere Ostgrenze bloß liegen würde", erklärte Übergangspräsident Alexander Turtschinow gestern in Kiew.

Überdies dürfte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Beweisen dafür haben, dass russische Soldaten Blockaden und andere Operationen auf der Krim durchführen; Moskau sprach zuletzt von nur „lokalen Selbstverteidigungskräften". OSZE-Beobachter hatten aber deren Gerät und Nummernschilder klar russischen Einheiten von außerhalb zuordnen können und bestätigten somit einen Bericht von „DiePresse.com" vom Montag.

Dass die Ukraine unfähig ist, an zwei Fronten zu fechten, legt ein simpler Kräftevergleich nahe: Sie hat stehende Streitkräfte von etwa 120.000 Mann. Nominell gibt es Reserven von einer Million Mann, von denen man jüngst etwa 40.000 einberief. Verteidigungsminister Ihor Tenjuk sagte allerdings, dass davon nur 6000 feldtauglich seien - hingegen geht Kiew von 80.000 bis 200.000 an der Ostgrenze postierten russischen Soldaten aus.

Russlands stehendes Militär hat 750.000 bis 800.000 Mann, dazu zwei Millionen Reservisten. Auch bei Großgerät ist Moskau stärker: 2800 Kampfpanzer versus etwa 750; mindestens 6000 Schützenpanzer gegenüber etwa 2300 der Ukraine. Mehr als 5600 russische Artilleriesysteme gegen 800 bis 1800 ukrainische, 1300 „echte" Kampfflugzeuge (also etwa ohne Transporter, etc.; Quelle: World Air Forces 2013) gegen 180 bis 200. Nur ein kleiner Teil der ukrainischen Jets ist flugfähig, der Zustand der meisten schweren Waffen ist fragwürdig. Das Militär ist seit Jahrzehnten unterfinanziert und geschrumpft.

Die Schwäche der Ukrainer angesichts der Russen liegt ferner an der Verteilung ihrer Verbände, was auch Militärexperten wie Matthew Clements (Jane's Intelligence Review, London) und Ruslan Pukhow (Center for Analysis of Strategies and Technology, Moskau) betonen. Die Basen sind meist aus Sowjetzeiten, daher auf Operationen gegen Westen ausgerichtet. Und so stehen von etwa 16 aktiven Heeresbrigaden nur vier östlich des Hauptflusses Dnjepr, das Gros steht zwischen Kiew und Lemberg. Die Ostgrenze ist fast ungedeckt. Auf der Krim gibt es nur kleine Verbände von gesamt gut 3500 Mann, also Brigadegröße; immerhin ist das Gebiet seit den 1990ern autonom, Kiew vermied starke Präsenz. Schon vor der massiven Verlegung der Russen dorthin (die Ukraine spricht nun von 19.000 zusätzlich Soldaten) waren die ukrainischen Garnisonen weit unterlegen gewesen; nun sind sie eingekesselt. Die russischen Soldaten und „Selbstverteidigungskräfte" stellen die Eingesperrten vor die Wahl: Seitenwechsel oder Abzug.

Nach fast zwei Wochen Belagerung sind weiter rund ein Dutzend ukrainischer Basen nicht zur Aufgabe bereit. Doch deren Versorgung ist schwierig, die Ungewissheit zermürbend. Die Soldaten stehen einer mehrheitlich russischstämmigen Lokalbevölkerung gegenüber, die von „Okkupanten" spricht.

Marinemanöver der USA

Ein Krieg dürfte jedenfalls nicht zu einem russischen Spaziergang werden: Das potenzielle Kampfgebiet Ostukraine ist riesig, die Russen könnten nur wenige Gebiete kontrollieren, die Ukrainer würden auf eigenem Land kämpfen. Auf der Krim könnten sich die russenfeindlichen Tataren (zwölf Prozent) erheben. Gestern bot Weißrussland Russland an, bis zu 15 Jets auf sein Gebiet zu entsenden - eine Reaktion auf die Verlegung von Nato-Jets ins Baltikum und nach Polen. Im Schwarzen Meer begann ein Marinemanöver der USA mit Bulgarien und Rumänien. (wg/som)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2014)

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