Timoschenko: "Die Oligarchie muss ein für alle Mal weg"

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Timoschenko: "Die Oligarchie muss ein für alle Mal weg"(c) REUTERS (VALENTYN OGIRENKO)
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Im Mai will Julia Timoschenko Präsidentin der Ukraine werden. Wo es gärt und wie sie Putin falsch eingeschätzt hat, erzählt sie im Interview.

Sich mit Julia Timoschenko auf einen Interviewtermin zu einigen ist eine Nervenfrage. Da fliegt man zum genannten Termin nach Kiew, und er wird plötzlich verschoben. Dann erhält man um elf Uhr in der Nacht den Anruf, dass das Treffen um acht Uhr Früh doch nicht klappt, sondern erst zu Mittag. Dann folgt am Vormittag der Anruf, dass es doch nicht im Büro stattfindet, sondern in einem Hotel am Fluss Dnjepr.

Am Ende steht Timoschenko trotz Schmerzen hoch konzentriert Rede und Antwort. Die Müdigkeit kann sie nicht ganz verbergen. Der Wahlkampf hat begonnen, das Land ist groß, die Reisedistanzen auch. Eben hat sie den schwedischen Außenminister Carl Bildt empfangen, der sich in der Zeit ihrer zweieinhalbjährigen Haft für ihre Freilassung eingesetzt und laut Timoschenko bewirkt hat, dass nicht noch mehr Leute wie sie politisch inhaftiert wurden. Timoschenko ist gesundheitlich nach ihren Bandscheibenvorfällen noch nicht fit, stützt sich auf einen Stock, wenn sie den Gast begrüßt, und lässt mit ihrer Haltung trotzdem nicht vergessen, dass sie lange die Grande Dame der ukrainischen Politik war – ja, und auch künftig gerne sein möchte.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich nach zwei Jahren im Gefängnis, das Sie Ende Februar verließen?

Julia Timoschenko: Ich fühle mich nicht sehr wohl dabei, über meine Gesundheit zu reden, nachdem bei den Protesten über 100 Leute umgekommen sind. Man sollte mehr über sie reden. Mir selbst geht es nicht so gut, wie ich gerne hätte, aber gut genug, um zu kämpfen.

Binnen eines Jahrzehnts waren Sie nun schon zwei Mal im Gefängnis. Was hat Sie dort beschäftigt?

Ich dachte, wenn man schon mit mir als Ex-Premierministerin so willkürlich verfährt, wie haben dann die einfachen Ukrainer alle 22 Jahre damit gelebt! Und dann hatte ich noch einen wichtigen Gedanken: durchhalten, nicht brechen, keine einzige Schwäche zeigen.

Verwundert hat, dass Sie, als Janukowitschs Regime fiel, problemlos freigingen. Warum so schnell? Wussten Sie, dass Sie freigehen?

Nein. Ich war praktisch als letzte der politischen Gefangenen an der Reihe. Und als das Janukowitsch-Regime fiel, habe ich, ehrlich gesagt, nicht geglaubt, dass ich überhaupt lebend herauskomme. Das Gefängnis befand sich ja in Charkow, wo Janukowitschs Umfeld am stärksten war.

Zur Zukunft: Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow hat der „Presse am Sonntag“ vorige Woche gesagt, dass Ihre Kandidatur für das Präsidentenamt „das Dümmste“ sei, was Sie tun können, denn wenn Premier und Präsident aus einer Partei kommen, führe das wieder zur Diktatur.

Als Arseni Jazenjuk vor Kurzem Premier wurde, sagte er, er werde als technischer Premier derart unpopuläre Maßnahmen durchführen, dass er besser aus unserer Partei austritt, was er gemacht hat. Auch (Timoschenkos Mitstreiter und Parlamentspräsident Alexander, Anm.)Turtschinow wird seinen Posten nicht behalten. Die wahre Demokratie besteht wohl nicht darin, dass einzelne Bürger jemandes Wahl anschwärzen, sondern, dass die Bürger wählen können. Ich habe mich zur Kandidatur entschlossen, weil ich überzeugt bin, dass es nur ganz wenige Politiker gibt, die die Oligarchen von der Politik vertreiben wollen.

Ich weite die Frage aus. Die Massenprotestbewegung der Orangen Revolution 2004 und die jetzige unterscheiden sich im Charakter stark. Als Sie jetzt vor den Demonstranten auftraten, gab es weniger Applaus als 2004. Der Protest hat sich geändert. Wie sehr haben Sie sich mit verändert?

Der Protest 2004 wurde zur Unterstützung eines Präsidentschaftskandidaten geboren. Der jetzige Protest ist einer ohne Politiker, vielmehr einer der Zivilgesellschaft. Der Hauptunterschied aber besteht darin, dass die Demonstranten nach der Orangen Revolution nach Hause und die Politiker in ihre Kabinette gingen. Und die Bürger haben sich weiter nicht mehr eingemischt. Heute ist es so, dass die Machthaber gefallen sind, aber das Volk die Machthaber weiter kontrolliert.

Die neue Situation verlangt aber offenbar auch nach neuen Führungsfiguren.

Klar. Mir scheint, dass die neuen Anführer den Forderungen der Proteste gerecht werden müssen, indem sie mit ihrer Verantwortung und ihren Fähigkeiten fundamentale Veränderungen durchführen. Nur Wahlen zeigen, wer eine solche Persönlichkeit ist.

Welche neuen Antworten erwarten sich die Menschen? Was brennt unter den Nägeln?

Das Wichtigste scheint mir, dass die Politik nicht mehr von einem engen Personenkreis monopolisiert bleibt.

Sie haben kürzlich in einem abgehörten Telefongespräch gesagt, dass Sie Putin in die Stirn schießen möchten. Putin selbst etwa hat 2008 gesagt, dass er den georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili „an den Eiern“ aufhängen möchte. Wenn man das im Westen so hört, fragt man sich: Was ist da los im postsowjetischen Raum?

Ich halte es nicht für korrekt, mein privates Telefongespräch, dessen Mitschnitt stark vom russischen Geheimdienst entstellt wurde, zu kommentieren. Aber ich möchte eines sagen: Nachdem Putin der Ukraine praktisch den Krieg erklärt hat, lebt bei uns das ganze Land mit solchen radikalen Gedanken. Die Leute sind sehr aggressiv gestimmt. Putin ist es gelungen, die Ukraine – und zwar im Widerstand gegen seine Aggression – zu einen. Nämlich die West- und Ostukraine.

Also was die ukrainischen Politiker nicht geschafft haben. So gesehen wäre Putin, frei nach Goethes Faust, ein Teil von jener Kraft, die das Böse will und dabei Gutes schafft?

Genau.

Sie kennen Putin ja nicht nur vom Hörensagen, Sie hatten viel mit ihm zu tun. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu ihm beschreiben?

Als ich Premierministerin war, war das Verhältnis sehr direkt, glatt und offiziell. Ich war immer der Ansicht, dass man den Dialog auf Augenhöhe führen muss. Das hat in gewisser Weise Hochachtung bei der russischen Führung ausgelöst. Heute hat sich mein Verhältnis zu ihm stark geändert. Ich kann nicht verstehen, wie ein Politiker solchen Niveaus bis zur Aggression gegen seine Nachbarn absacken kann. Mir scheint, Putin hat sich sehr geändert.

Aber ein solches Verhalten kommt ja nicht aus dem Nichts. Aus jemandem wie Carl Bildt etwa, mit dem Sie sich eben getroffen haben, wird kaum je ein Aggressor werden.

Offensichtlich habe ich etwas bei Putin früher nicht bemerkt.

Hat die Ukraine die Entwicklung auf der Krim verschlafen?

Wir haben die militärische Aggression Russlands ganz und gar nicht erwartet. Wir hatten nicht die ganze Kampfbereitschaft für eine Verteidigung. Aber wir hätten kein Recht gehabt, die georgischen Szenarien von Abchasien und Südossetien zu wiederholen. Ich bin tief überzeugt, dass Putin, hätte die Ukraine mit militärischen Mitteln auf die Entwicklung reagiert, dies zum Anlass genommen hätte, binnen weniger Tage das ganze Land zu okkupieren. Die Krim wäre trotzdem von den Russen eingenommen worden, ebenso wie die Ukraine, aber es wären Zehntausende dabei umgekommen. Mir scheint, dass Putin diesen Plan hatte.

Tritt das ukrainische Militär in der Ostukraine nun mehr vorbereitet auf?

Ja. Man hat die Armee an den südöstlichen Grenzen mobilisieren und eine neue nationale Garde formieren können. Dennoch denke ich, dass die demokratische, westliche Welt verpflichtet ist, den Konflikt demokratisch mit finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen zu regulieren. Die westlichen Sanktionen sind doch eine sehr starke Position des Westens, auf die wir auch künftig bauen.

Sie sagten kürzlich, Verhandlungen mit Russland können nur unter der Bedingung stattfinden, dass die Krim zurückgegeben wird. Ist das nicht illusorisch, zumal sich doch der Westen auch immer mehr mit dem Faktum der Annexion abzufinden beginnt und das Augenmerk auf die Abwendung einer Eskalation in der Ostukraine lenkt?

Es gibt eine logische Kette: Anfangs wurden Abchasien und Ossetien nicht verteidigt. Dann Syrien nicht gegen die Diktatur. Russland sah, dass es keine Strafen zu befürchten hat. Dann folgte die Krim. Und wenn die Krim nicht zurückgegeben wird, setzt sich diese historische logische Kette fort. Auch gegenüber anderen Ländern. Wenn wir auf der Krim nicht korrigieren, was in Abchasien und Ossetien versäumt worden ist, wird die Unkalkulierbarkeit des Kremls die Stabilität auf der ganzen Welt zerstören.

Nochmals zu Putin: Sie haben zur Beendigung des Gaskonflikts 2009/2010 einen umstrittenen und bis heute fatalen Gasvertrag mit Moskau abgeschlossen. Hat man Sie erpresst?

Ich denke schon seit Langem, dass es umgekehrt ist und man uns mit einem politischen Preis (also Rabatt) erpresst. Für Rabatte wurden immer politische Zugeständnisse verlangt. Wirkliche Unabhängigkeit kann die Ukraine nur mit einem Marktpreis auf Gas erlangen. Als wir den Vertrag unterzeichneten und Marktpreise schufen, sahen wir in den vier nächsten Jahren starke Veränderungen.

Und zwar?

Die Ukraine senkte ihren Gasverbrauch um die Hälfte. Die gasintensiven Industrien wurden modernisiert, und wir begannen die Förderung von Schiefergas und die Gasumkehrlieferungen (Revers-Flow, Anm.) aus Europa in die Ukraine voranzutreiben.

Sie wollen natürlich Ihren Gasvertrag von damals verteidigen.

Ich verteidige ihn nicht nur. Es gibt keine Alternative zu einem Marktpreis, wenn wir keine politischen Vasallen bleiben wollen. Im Übrigen haben im Verhältnis mit Moskau Verträge keine Bedeutung. Denn im Vertrag von 2009 steht in Punkt 4.4., dass, wenn eine Seite die Preisformel nicht akzeptiert, man zu einem formellosen Zugang übergehen kann, was Russland ja mit Janukowitsch gemacht hat, als dieser den Assoziationsvertrag mit der EU platzen ließ. Verabsolutieren Sie also den Gasvertrag nicht!

Was ist die Sprache, die der Kreml versteht?

Er versteht zwei Dinge: entweder Stärke oder Kapitulation. Etwas in der Mitte kennt er nicht. Man muss also von der Position der Stärke und nicht der Kapitulation aus reden. Deshalb denke ich auch, dass die westlichen Sanktionen so weit verschärft werden müssen, dass Russland die Stärke versteht. Und danach braucht es sehr strenge Ultimaten zur Beendigung der Okkupation.

Zurück zu den bevorstehenden Präsidentenwahlen im Mai. Bisher hatten Sie immer Janukowitsch als diametral entgegengesetzten Gegner, was Sie zur Hochform auflaufen ließ. Jetzt haben Sie mit Petro Poroschenko, der die Massenproteste unterstützt hat, einen prowestlichen Konkurrenten. Zwei derselben Ausrichtung – da wird es schwerer, sich zu positionieren.

Bisher existierte bei den Wahlen ja immer die Teilung zwischen prorussischen und proeuropäischen Kandidaten. Nun fehlt diese Dichotomie. Aber wir dürfen nicht so oberflächlich sein und müssen verstehen, dass mit der Demontage Janukowitschs und seiner Familie nur die Spitze des Eisbergs beseitigt wurde. In Wirklichkeit regieren seit Jahren die Oligarchen. Die Oligarchie muss ein für alle Mal weg. Die jetzige Wahl wird ein Wettbewerb zwischen der Oligarchie, die sich konsolidiert hat, und jenen Kräften, die die Oligarchen in den Status gewöhnlicher Großunternehmer überführen wollen.

Sie wollen also Poroschenko, der in Umfragen vor Ihnen liegt, als Vertreter der Oligarchen brandmarken?

Es beunruhigt mich sehr, dass Firtasch (mächtiger Gashändler, der in Wien festgesetzt worden ist, Anm.), Bojko (Ex-Energieminister) und Ljowotschkin (Ex-Stabschef von Janukowitsch)Poroschenko unterstützen. Obwohl die USA Firtasch strafrechtlich verfolgen wollen, traf Poroschenko sich mit ihm als Chef dieses Clans in Wien. Sie arbeiten wie in einem Team zusammen.

Man kann das auch einfach einen geschickten politischen Schachzug nennen, zumal Firtasch einen TV-Kanal besitzt. Poroschenko sucht sich seine Unterstützer und Sie suchen sich Ihre.

Nein. Es passiert jetzt das Gleiche, wie nach der Orangen Revolution. Auch damals hat das Volk gefordert, die Oligarchie zu beseitigen. Und gleichzeitig hat (der damalige Präsident Viktor, Anm.)Juschtschenko dahinter bereits die Bande mit den Oligarchen geknüpft.

Welches Gefühl hat denn die Festnahme Firtaschs in Wien bei Ihnen ausgelöst?

Dass es Gerechtigkeit gib, und dass sie früher oder später eintritt.

Firtasch schießt auch gegen Sie scharf und sagte auf Sie anspielend kürzlich, dass Poroschenko die Aufgabe, das Land zu stabilisieren, höher stellt als eigene Ambitionen.

Die Zivilgesellschaft hat klargemacht, dass sie die Allianz zwischen Business und Politik in einer Hand nicht mehr zulässt. Ich selbst habe vor 17 Jahren die Wahl zwischen Geschäft und Politik getroffen.

Sie unterstellen Ihren Gegnern Oligarchie. Aber auch Ihre Parteigänger von der jetzigen Übergangsregierung haben kürzlich im Osten des Landes etwa mit den Topmilliardären Kolomojski und Taruta zwei Oligarchen als Gouverneure eingesetzt.

Taruta ist kein Oligarch, er ist ein Unternehmer, der nie an der Politik teilgenommen hat. Er hat nirgends ein Monopol und kontrolliert keine Medien. Seine und Kolomojskis Ernennung haben das Ziel, dass sie ihren Einfluss gegen den Separatismus geltend machen.

Entscheidend wird künftig sein, dass man endlich den russischsprachigen östlichen Landesteil für sich gewinnt, um die Spaltung des Landes zu überwinden. Wie könnte man die Leute im Osten abholen?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich sehe drei Schritte: Man darf keinesfalls das Gesetz über die regionalen Sprachen aufheben. Es braucht dringend einen Budgetkodex, der den Regionen eine bedeutsame finanzielle Eigenständigkeit verleiht. Und die regionale Exekutive soll nicht mehr von Kiew aus, sondern von den Regionen ernannt werden. Das alles zusammen wird im Osten dann als jene regionale Freiheit aufgefasst werden, die dort gewollt ist.

Richtung Föderalisierung, wie das jetzt diskutiert wird?

Nein. Eine Föderalisierung ist für die Ukraine in keiner Form zulässig. Denn dann entstehen bei uns im Osten und im Süden zehn autonome Republiken wie die Krim, die genauso Attacken ausgesetzt sein würden, wie das jetzt mit der Krim geschehen ist.

Steckbrief

27. November 1960
Timoschenko wird in Dnjepropetrowsk geboren. Sie wird von ihrer Mutter aufgezogen, der Vater verlässt die Familie. Studium der Wirtschaftswissenschaften. Sie arbeitet als Ingenieurin in der Rüstungsfirma Lenin in ihrer Heimatstadt.

Neunzigerjahre
Timoschenko steigt ins Energiegeschäft ein. Reich wird sie als Chefin des Konzerns Vereinigte Energiesysteme der Ukraine, der Gasgeschäfte mit Gazprom abwickelt.

Karriere als Politikerin
1996 gründet Timoschenko mit ihrem langjährigen Weggefährten Alexander Turtschinow (jetziger Übergangspräsident) die Vaterlandspartei. Nach der Orangen Revolution von 2004/05 wird sie Ministerpräsidentin. Als ihr Widersacher Viktor Janukowitsch im Februar 2010 zum Präsidenten gewählt wird, nehmen die Repressalien zu.

Haft und Freilassung
Im August 2011 wird Timoschenko verhaftet. Sie kommt im Februar 2014 nach Janukowitschs Flucht frei.

Chronologie

Ende Februar ernennt das Krim-Parlament einen neuen Premier; Bewaffnete besetzen Gebäude und umzingeln ukrainische Militärbasen. Das Krim-Parlament votiert für die Annexion durch Russland. Mitte März stimmt die Krim für den Anschluss an Russland.

Seit einer Woche erlebt die Ostukraine ein ähnliches Szenario. In mehreren Städten werden öffentliche Gebäude von prorussischen Aktivisten besetzt. Ein Ultimatum der ukrainischen Regierung bis Freitag läuft ab. Am gestrigen Samstag besetzen Aktivisten zwei weitere Gebäude in der Stadt Slawjansk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2014)

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