190 Schülerinnen, die aus einem Internat verschleppt wurden, sind in der Gewalt der Terrorgruppe Boko Haram. Verzweifelte Eltern machen sich nun auf die Suche nach ihren Kindern.
Abuja/Wien. Mit Maschinenpistolen bewaffnet, stürmten sie mitten in der Nacht das Internat der Schule in der Stadt Chibok im Nordosten Nigerias. Schüsse fielen, ein Teil des Schulgebäudes ging in Flammen auf. Mehr als 230 Mädchen zwangen die Islamisten auf Lastwagen und verschleppten sie in den Sambisa Forest, ein dichtes Waldgebiet an der Grenze zu Kamerun. Die entlegene Region gilt als Rückzugsort für die radikalislamische Gruppierung Boko Haram, die hinter dem Anschlag vermutet wird. Die Schülerinnen, alle zwischen 16 und 18 Jahre alt, sollen für die von der Regierung in Abuja bekämpften Terrorgruppe vermutlich als Sexsklavinnen missbraucht werden oder in den im Busch versteckten Camps kochen und putzen.
Vor mehr als einer Woche fand der Angriff auf die Schule in Chibok statt. Doch noch immer fehlt von rund 190 Schülerinnen jede Spur. Ein Militäreinsatz, der vom nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan persönlich angeordnet wurde, verlief ergebnislos. Mittlerweile haben sich verzweifelte Eltern zusammengeschlossen und durchkämmen den Busch auf eigene Faust. „Tote Zone“ nennen sie den Sambisa Forest hinter Chibok, weil man das Gebiet, in dem die Terroristen das Sagen haben, besser meidet. Rund 200 Freiwillige, begleitet von Sicherheitskräften, machen sich auf die Suche nach ihren Töchtern, bisher sind sie aber nur auf verlassene Camps gestoßen.
Rund 40Mädchen ist die Flucht gelungen. Während das Militär zuerst behauptete, alle 234 Schülerinnen konnten befreit werden, widersprach die Schuldirektorin der Chibok Secondary School, Asabe Kwabura, den offiziellen Angaben: Nur ein Bruchteil der Mädchen sei wieder zu Hause, außerdem konnten sie sich aus eigener Kraft befreien.
„Als einer der Lastwagen eine Panne hatte, sind wir hinuntergesprungen und haben uns im Wald versteckt. Wir haben bis zum Morgen gewartet und sind dann nach Hause gegangen“, erzählt eine der entführten Schülerinnen der BBC. Zehn bis 15 Mädchen konnten so entkommen. Weiteren Schülerinnen dürfte die Flucht gelungen sein, als sie in einem der Camps kochen sollten.
Immer wieder greifen Mitglieder von Boko Haram Schulen an. Bildungseinrichtungen im westlichen Stil sind das erklärte Ziel der vor etwa zwölf Jahre gegründeten Gruppierung, deren Name „Westliche Erziehung ist verboten“ bedeutet: Erst im Februar wurden bei einem Anschlag auf eine Internatsschule für Buben 20 Schüler getötet. Im Oktober überfielen die Islamisten eine landwirtschaftliche Hochschule im Nordosten des Landes und erschossen 50 Schüler.
Überforderte Regierung
Boko Haram will einen Gottesstaat im Norden Nigerias errichten, dazu ist den Islamisten scheinbar jedes Mittel recht: Seit Jahresbeginn sind etwa 1500 Menschen bei den brutalen Angriffen ums Leben gekommen – wie zuletzt bei einem Bombenanschlag auf den Busbahnhof in der Hauptstadt Abuja. Die Regierung, die vergangenen Mai den Ausnahmezustand über mehrere Bundesstaaten verhängt hat, wirkt in ihrem Kampf gegen die Islamisten bisher hilflos.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2014)