Ukraine: Attentat auf Stadtchef von Charkiw

Gennadij Kernes, Ukraine, Russland
Gennadij Kernes, Ukraine, Russland(c) APA/EPA/SERGEY KOZLOV (SERGEY KOZLOV)
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Gennadij Kernes, Parteigenosse von Ex-Präsident Janukowitsch, wurde durch einen Schützen schwer verwundet. USA und EU erließen weitere Sanktionen gegen Russland.

Charkiw/Washington. Kurz vor dem Attentat hat Gennadij Kernes noch zwei Postings auf seine Facebook-Seite gestellt: Auf einem Foto posiert er mit dunklen Sonnenbrillen, Wollmütze und im eng anliegendem Radlerdress vor seinem schicken Rennrad. Ein Clip zeigt ihn beim Radeln. Der Charkiwer Bürgermeister zelebrierte seinen Sportsgeist mit Vorliebe in den sozialen Medien.

Nur drei Stunden nach diesen Postings verübten Unbekannte einen Anschlag auf ihn. Kernes radelte auf einem Charkiwer Boulevard, als ihn eine Kugel in den Rücken traf, abgefeuert vermutlich aus dem umliegenden Wald. Seine Leibwächter konnten ihn nicht schützen, sie saßen im Auto. Er wurde schwer verletzt ins Spital eingeliefert, sein Zustand ist labil.

Der Mordanschlag hat die Charkiwer schockiert. „Kernes, kämpfe um dein Leben!“, „Gena, halte durch!“: Im Minutentakt erschienen gestern Genesungswünsche auf der Facebook-Seite des Bürgermeisters. Das Attentat nährt die Angst vor einer weiteren Destabilisierung. Schlägereien, Drohungen – das sind ukrainische Politiker gewohnt. Attentate gehörten bisher nicht zum Alltag.

Kernes' Konto von EU gesperrt

Der 54-Jährige ist bekannt – und eine umstrittene Persönlichkeit. An die Macht kam er 2010 in einer äußerst knappen Wahl, die er nach Angaben seiner politischen Gegner mithilfe von Betrug gewann. Kernes galt bisher als Hardliner und tatkräftiger Unterstützer von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch. Wegen seiner Nähe zum Ex-Präsidenten stand er auch auf der Liste jener, deren Konten in der EU mit Ende Februar gesperrt wurden.

Nachdem Janukowitsch geflohen war, drohte er gemeinsam mit dem nunmehrigen Ex-Gouverneur Michail Dobkin (der sich nun als Präsidentschaftskandidat versucht), Charkiw zum Zentrum einer Gegenregierung zu machen. Seitdem ist er politisch wieder leiser getreten. Die Justiz in Kiew hat ein Gerichtsverfahren gegen ihn aufgenommen. Offiziell hat er sich als Gegner der Umtriebe der prorussischen Separatisten positioniert. Kernes verteidigte sein Amt lautstark als Charkiwer Lokalpatriot – zuletzt auch auf einer prorussischen Kundgebung, wo er das Podium erklomm und den Anwesenden mitteilte, ihre Rufe nach einem Referendum seien gegenstandslos.In Charkiw war das Klima nach Zusammenstößen von proeuropäischen und prorussischen Demonstranten zuletzt ruhig.

Kernes, stets im Maßanzug und mit Designerbrille, gilt als Selbstdarsteller par excellence: Auf seiner Webseite wimmelt es von Fotos, die ihn zeigen – beim Tanz, mit Kindern, beim Weltkriegsgedenken. Zart und muskulös zugleich, zelebrierte er öffentlich seine Fitnessbegeisterung, joggte und fuhr Rennrad, jeden Tag. Die Täter wussten, wo sie ihn finden würden.

Auch in anderen Städten im Osten des Landes war es ein unruhiger Tag. In Konstantyniwka, nahe Slawjansk, besetzten etwa 20 Bewaffnete das Polizeirevier und die Stadtverwaltung. Laut Agenturberichten waren sie gut ausgerüstet. Ein Mann erklärte, man verfolge die Gründung einer „Neurussischen Republik“.

In Slawjansk halten prorussische Separatisten weiter sieben Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gefangen. Nur ein OSZE-Beobachter wurde am Sonntag wegen gesundheitlicher Probleme freigelassen. Berlin sprach sich gegen eine gewaltsame Befreiung der Geiseln (unter ihnen befinden sich mehrere Deutsche) aus.

Sperren für Rosneft und Rostec

Die EU und die US-Regierung verhängten gestern weitere Sanktionen gegen Einzelpersonen. Washington belegte zwei mächtige Gefolgsleute des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Einreiseverbot sowie Vermögenssperren: Igor Setschin, Vorstandschef des Ölkonzern Rosneft, und Sergej Tschemesow, Chef des Mischkonzerns Rostec, der 2007 auf Putins Geheiß defizitäre Chemie- bis zur Rüstungsindustrien zusammenfasste. Washington wirft ihnen sowie fünf weiteren Männern und 17 Energie- und Finanzfirmen vor, die Unruhen in der Ukraine zu unterstützen.

Beide Männer sind enge Freunde des Präsidenten: Setschin war für den sowjetischen Geheimdienst in Angola, bevor er Putin in St. Petersburg begegnete. Tschemesow war wie Putin KGB-Spion in der DDR – und wohnte in Dresden im selben Wohnblock wie die Putins.

ZUR PERSON

Gennadij Kernes (54)ist seit 2010 Bürgermeister der ostukrainischen Stadt Charkiw. Er ist Mitglied der Partei der Regionen und hat Ex-Präsident Janukowitsch bis zuletzt verteidigt. Nun suchte er offenbar einen Ausgleich mit den neuen Kräften in Kiew. Am Montag wurde er angeschossen. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2014)

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