Türkei: Die Islamisierung des Alltags

EPA (Kerim Okten)
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Der Eindruck täuscht nicht: Seit dem Wahlsieg Erdogans orientieren sich die Türken stärker an „islamischen Werten“.

Istanbul. Ist der Alltag in der Türkei gewissermaßen „islamischer“ geworden, seit die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) von Premier Recep Tayyip Erdogan vor fünf Jahren die Macht übernommen hat? Jahrelang haben die Demoskopen die allgemeine Wahrnehmung, dass es nun wieder mehr Frauen mit Kopftuch gibt, für eine Fata Morgana ohne wissenschaftliche Grundlage erklärt.

Doch nun kommt Widerspruch aus den eigenen Reihen. Die Zeitung „Milliyet“ hat eine Untersuchung des angesehenen Konda-Instituts veröffentlicht, die belegt, dass die religiöse Lebensweise seit dem Amtsantritt der AKP sehr wohl im Aufwind ist.

Der politische Islam hatte in der Türkei seine große Zeit in den 90er-Jahren, als die Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans dabei war, wie eine Woge die Macht zu erobern. Das ist lange vorbei, Erbakans jetzige Partei kann froh sein, wenn sie mehr als ein Prozent der Stimmen bekommt. Die Türkei wird heute allerdings von einer Kraft regiert, die ihre Wurzeln in der Wohlfahrtspartei hat, sich aber erheblich gewandelt hat. Das Etikett „islamisch“ oder „gemäßigt islamisch“ weist Premier Erdogan für seine AKP entschieden zurück. Das einzige Adjektiv, das Erdogan für die Beschreibung der AKP zulässt, ist „konservativ“, was in der Türkei allerdings fast synonym für religiös ist.

Auch Art der Verhüllung ändert sich

Die Zahlen der aktuellen Untersuchung zeigen jedenfalls einen deutlichen Trend: So ist die Zahl der Frauen, die den Kopf nicht bedecken in vier Jahren von 35 auf gut 30 Prozent gefallen. Interessant ist auch die Art der Kopfbedeckung: Nach wie vor ist das traditionelle, einfache Kopftuch, das hinten mit einem Knoten zusammengebunden wird, die häufigste Art. Kaum zugelegt hat der Tscharschaf oder Tschador, das schwarze Tuch, dass den Körper ganz verdeckt und das im Nachbarland Iran verbreitet ist. Insbesondere bei jüngeren Frauen ist nun eine andere Form der Kopfumhüllung en vogue, der sogenannte „Türban“. Ein Tuch wird um den ganzen Kopf gewickelt, so dass außer dem Haar auch Hals und Kinn bedeckt werden und das Gesicht nur nach vorne offen bleibt. Für die Gattinnen der Männer an der Spitze der AKP ist der Türban geradezu eine Pflicht. Die Frau des Premiers, Emine Erdogan trägt ebenso einen Türban wie die Frau des Präsidenten, Hayrünnisa Gül.

Das Vorbild färbt offenbar ab. Der Anteil der Türban-Frauen hat sich in der Türkei in den vergangenen Jahren mehr als vervierfacht und liegt nun bei elf Prozent. Während die traditionelle Kopfbedeckung bei Frauen aus höheren Bildungs- oder Einkommensschichten ganz selten zu sehen ist, gilt das nicht in der gleichen Weise für den Türban.

Türban als Fanal des Mittelstands

Anders als bei Tscharschaf oder Kopftuch, wollen die Türbanträgerinnen mit ihrem Tuch offenbar auffallen. Beliebt sind Seidenschals in leuchtenden Farben. Durch eine üppige Frisur darunter wird der Türban aufgebläht und kommt so noch mehr zur Geltung. Man könnte fast sagen, dass der Türban zum Fanal des neuen türkischen Mittelstandes geworden ist, der vom Wirtschaftsaufschwung ebenso profitiert wie von seiner Nähe zur Regierungspartei.

Auch andere religiöse Einstellungen sind weit verbreitet. Eine Mehrheit der Türken ist beispielsweise gegen Bankzinsen. Immerhin ein Drittel ist der Meinung, ein Mann sollte unter keinen Umständen die Hand einer Frau berühren. Trotzdem sind die geäußerten Ansichten keineswegs deckungsgleich mit dem traditionellen islamischen Recht. Immerhin 87 Prozent sind dagegen, dass ein Mann mehr als eine Frau heiratet und etwa 95 Prozent sind entgegen koranischem Recht der Meinung, Töchter und Söhne sollten gleiche Erbanteile bekommen.

Wenn die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, die mit dem Wahlsieg der AKP 2002 eingesetzt hat, ein Etikett verdient, dann ist es eben doch „gemäßigt islamisch“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2007)

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