Der lautlose Putsch der türkischen Justiz

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Auf die Türkei kommt eine gewaltige Krise zu: Die Justiz erwägt ein Verbot der gemäßigt islamischen Regierungspartei AKP. Doch die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen eine solche Maßnahme.

So stellt man sich die Frauen-Chefin einer islamisch-demokratischen Partei nicht vor: Fatma Sahin empfängt ihre Gäste ohne Kopftuch, mit Perlenkette und in einem cremefarbenen Anzug. Hinter ihrem Schreibtisch hängen zwei große Fotografien Mustafa Kemal Atatürks. Das eine zeigt den streng säkularen Staatsgründer der Türkei mit seiner Mutter, das andere, aus den 30er-Jahren, untergehakt mit einer Gruppe moderner Damen mit Hut.

Noch ist Fatma Sahin Parlamentsabgeordnete, noch ist sie Vorsitzende des Frauenverbands der regierenden AKP. Doch das könnte bald anders sein. Denn die 40-jährige technische Chemikerin ist eine von 71 AKP-Politikern, die der Generalstaatsanwalt mit einem fünfjährigen Politikverbot belegen will. Ihr wird vorgeworfen, das laizistische System der Türkei unterwandert zu haben.

162 Seiten Munition gegen AKP

Die gesamte Regierungspartei AKP, im Juli mit fulminanten 47 Prozent der Stimmen wiedergewählt, könnte verboten werden, Premier Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident Abdullah Gül und fast die gesamte Führungsriege eingesperrt werden. Am 31. März akzeptierte der Verfassungsgerichtshof einen entsprechenden Antrag von Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalç?nkaya.

Auf 162 Seiten hat der Jurist mit dem gestutzten weißen Schnurrbart alles zusammengetragen, was sich gegen die AKP vorbringen lässt, um sie als „Brennpunkt anti-säkularer Aktivitäten“ darstellen zu können. Das Wort vom Justizputsch macht die Runde.

Was der Armee im vergangenen Sommer nicht gelungen ist, soll jetzt der zweite Pfeiler der alten kemalistischen Elite schaffen: die Richterschaft. Der erste Versuch war kläglich gescheitert. Im Internet hatte das Militär düster gedroht, keinen Staatspräsidenten zu dulden, dessen Frau ein Kopftuch trägt. Die AKP ging damals in die Gegenoffensive, zog Neuwahlen vor, fuhr einen Erdrutschsieg ein und setzte Abdullah Gül erst recht als Staatsoberhaupt ein.

Auch diesmal könnte die AKP die Flucht nach vorne antreten. Seit vergangenem Jahr lässt Premier Erdogan eine neue „zivile Verfassung“ ausarbeiten, die das alte, von der Armee 1982 oktroyierte Grundgesetz ersetzen soll. Und darin könnte auch ein Passus enthalten sein, der das Verbot von Parteien erschwert. Abgesegnet werden müsste die neue Verfassung in einer Volksabstimmung.

Doch die AKP zögert. Kann sie mit dem Referendum den Richtern noch zuvorkommen, oder erweckt sie damit erst recht den Eindruck, ihre versteckte islamistische Agenda nun auch verfassungsrechtlich absichern zu wollen? Erdogans Regierung könnte deshalb auch zu einer Verzögerungstaktik greifen.

Die Uhr tickt

Nur noch bis 30. April hat die Regierungspartei Zeit, ihre Verteidigungsschrift einzureichen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die kemalistische Elite die Spielregeln ändert. Vier Mal hat die Armee seit der Staatsgründung geputscht, das letzte Mal nicht mit Panzern, sondern „sanft“. Damals wurde Necmettin Erbakan, der politische Ziehvater Erdogans und Güls, aus der Regierung gedrängt.

Erbakans Wohlfahrtspartei wurde 1998 verboten, sie spaltete sich danach: in einen islamistischen Flügel – und in die AKP, die Erdogan und Gül als rechtskonservative Sammelbewegung 2002 zur Macht führten. Die Spaltung der AKP könnte auch diesmal das Ziel der Kemalisten sein. Die Regierungspartei ist jedenfalls auf ein mögliches Verbot vorbereitet. „Wir haben Plan A, Plan B und Plan C in der Schublade“, sagt AKP-Frauenchefin Sahin.

Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik hielt sich bei ihrem Türkei-Besuch tunlichst aus dem Verfassungsstreit heraus. Die EU könne weder Schiedsrichter noch politischer Polizist sein.

Die türkische Opposition, bei den Wahlen schwer geschlagen, schlachtet die Situation nach Kräften aus. Die AKP habe das Ausland um Hilfe gegen den Verfassungsgerichtshof gebeten, ein noch nie da gewesener Vorgang in der Tükei, behauptet Onur Öymen, Generalsekretär und Vizevorsitzender der sozialdemokratisch-nationalistischen CHP. Der 67-jährige Ex-Botschafter zählt Beispiele dafür auf, wie die AKP die laizistische Ordnung der Türkei untergrabe: So habe Erdogan die Demokratie mit einer Station auf dem Weg einer Tramway verglichen.

„Demokratie zurückschrauben“

Doch in der Bevölkerung verfangen solche Parolen nicht mehr. Die Mehrheit lehnt das Verbotsverfahren ab. Der Unternehmerverband Tüsiad ebenso wie die griechisch-orthodoxe Kirche: „Das ist ein Versuch, die Demokratie zurückschrauben“, sagt Pater Dositheos, der Sekretär des Patriarchen in Istanbul.

Schützenhilfe erhält Erdogans Regierung zudem vom religiösen Establishment. „Als Akademiker bin ich immer auf der Seite der Freiheit“, sagte Professor Mustafa Cagrici, der Großmufti von Istanbul. Im Gespräch mit ihm wird aber auch deutlich, dass der konservative Druck auf Frauen in der Türkei immer mehr zunimmt: „Die Pflicht für Frauen, ein Kopftuch zu tragen leitet sich aus dem Koran ab“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2008)

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