Donnergelächter auf der Insel

UK Independence Party (UKIP) leader Nigel Farage reacts alongside UKIP candidate Diane Jones as they listen to the results of the European Parliament election for the south east region, in Southampton
UK Independence Party (UKIP) leader Nigel Farage reacts alongside UKIP candidate Diane Jones as they listen to the results of the European Parliament election for the south east region, in SouthamptonREUTERS
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Die britische EU-feindliche UKIP versetzt das politische Establishment in helle Aufregung. Warum der Sieger der EU-Wahl mehr als eine Eintagsfliege ist.

Empört sich ein Brite der alten Schule, schreibt er gern einen Leserbrief, besonders gern an den „Daily Telegraph“. „Sir“, donnerte also am 14. April ein gewisser William Rogers aus Kingston upon Thames, „der entscheidende Grund, warum Menschen wie ich, der ich seit 1979 immer die Tories gewählt habe, bei der Europawahl für UKIP stimmen werde, ist, dass die Konservativen nicht mehr konservativ sind.“

Wie Rogers entschieden sich in der Vorwoche vier Millionen weitere Briten und machten die United Kingdom Independence Party (UKIP) bei der EU-Wahl mit 27,5 Prozent zur stärksten politischen Kraft im Land (bei 34 Prozent Wahlbeteiligung). Seither herrscht im politischen Establishment aus Konservativen und Labour helle Aufregung.

Gelingt der Partei des EU-Gegners Nigel Farage bei der Wahl im Mai 2015 erstmals der Parlamentseinzug, werden die Karten neu gemischt. „Mit jedem Ergebnis von zehn Prozent aufwärts werden sie den anderen Parteien ernsten Schaden zufügen“, meint Politikprofessor Tim Bale, „denn dann werden die Nationalpopulisten zum ,Zünglein an der Waage‘.“ Schon jetzt bestimmen sie das politische Geschehen: Die Partei verlangt einen sofortigen EU-Austritt und will die Einwanderung stoppen. „Es bringt nichts, über Vertragsänderungen zu verhandeln, wie es der Premier will“, sagt David Coburn, der in Schottland ein EU-Mandat für UKIP gewonnen hat: „Wir wollen raus!“ Die EU-Gegner unter den Tories fühlen sich bestätigt; beim Thema Einwanderung wetteifern die Parteien im Scharfmachen.

Den Herausforderungen des modernen Großbritannien stellt UKIP die Rückkehr in eine fiktive Vergangenheit gegenüber: „Die 1950er Jahre – vor dem vermeintlichen nationalen Niedergang– sind ein Prisma, durch das sie die Gegenwart betrachten“, sagt Michael Kenny, Professor für englische Geschichte. Labour und Konservative kamen 1951 auf 97 Prozent der Stimmen. In Kleidung und Sprache imitiert Farage bis ins Detail einen konservativen Landedelmann dieser Zeit.

Diese sind seine größte Zielgruppe. „60 Prozent der UKIP-Wähler sind frühere Konservative“, schätzt Tim Knox, Leiter des Centre for Policy Studies. Doch der Reiz der Partei reicht längst weiter: „UKIP spricht die Unzufriedenen, die Reformverlierer und die bei der Globaliserung zu kurz Gekommenen an“, meint Kenny. „Im langen Aufschwung der 1990er-Jahre hat der politische Diskurs übersehen, dass ein Teil der Bevölkerung zurückgelassen wurde.” In diesem Reservoir wildert Farage: „Der UKIP-Fuchs ist in den Hühnerstall der Traditionsparteien eingedrungen“, triumphiert er nach seinem Wahlsieg. „Und das war erst der Anfang.“ Farage könnte Recht behalten. „Es gibt vermehrt Hinweise, dass UKIP mehr als eine Eintagsfliege ist“, sagt Matthew Goodwin, der mit Richard Fox in dem Buch „Revolt on the Right“ nachweist, dass UKIP zunehmend Unterstützung aus dem Labour-Lager gewinnt und Nichtwähler mobilisieren kann.


„Leere Gefäße“. Vergleichbare Gruppen sind auf dem Kontinent nicht unbekannt. „UKIP ist Ausdruck eines Phänomens, das in ganz Europa existiert, und für das es wohl keine Behandlung, nur eine Linderung gibt“, sagt Bale, der auch den Aufstieg der FPÖ studiert hat.

Die Wirtschaftskrise hat ein Gefühl der Unsicherheit verstärkt, auf das die Großparteien keine Antwort haben. Die Linke hat mit Ideologie-Spagaten wie New Labour ihre klassische Wählerschaft verloren, während die Konservativen die Konkurrenz weder durch Ausgrenzung noch durch Anbiederung unter Kontrolle bringen. Beide Traditionsparteien sind sich im Kampf um die Mitte so ähnlich geworden, dass „die Wähler sie für leere Gefäße halten“, wie Knox sagt. Diesem Archetypus des modernen Einheitspolitikers tritt UKIP mit einer radikalen Gegenposition entgegen. Die Partei verbirgt nicht, dass sie keine Politik hat, sie ist stolz darauf.

„468 Seiten Unsinn”, sagt Farage über das UKIP-Programm von 2010. Es schadet der Partei bisher auch nicht, dass sie wie ein Magnet auf Menschen mit jeder Art unappetitlicher Ansichten wirkt. Die Briten lieben Selbstironie, und Farages Donnergelächter schallt durch das ganze Land. „Mit Tony Blair hielt das Showbusiness in der Politik Einzug“, meint Kenny. In ihrer „Angst, dass sich das Land bis zur Unkenntlichkeit verändert“ (Bale), wählen die Briten einen Darsteller, der eine „Authentizität“ vorspielt, die keine ist. Farage konnte sich zur „Stimme des Volkes“ hochschwingen, als ginge es um die Schlagerparade „The Voice UK“. An der EU-Wahl nahmen 16,5 Mio. Wähler teil, exakt so viele wie das Finale der Castingshow „The X-Factor“ verfolgten.

Kenny hofft: „Die Wähler wollen ihren Unmut ausdrücken, aber nicht von diesen Leuten regiert werden.“ Doch der künftige UKIP-Mandatar Coburn erklärt: „Die Berufspolitiker haben genug Schaden angerichtet, jetzt ist es Zeit, die Amateure ans Ruder zu lassen.“ Der X-Faktor droht den IQ zu ersetzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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