Die extremistischen Geister, die Erdoğan rief

Nun rächt sich, dass die Regierung in Ankara im Kampf gegen Syriens Diktator Assad jahrelang radikale Gruppen wie Isil gewähren ließ. Präsident Gül warnt bereist vor einem "Afghanistan am Mittelmeer".

Istanbul. Die türkische Regierung gerät wegen der Geiselnahme in Mossul und der Erfolge der Extremistentruppe Isil unter Druck. Der Hauptvorwurf lautet, Ankara habe Isil in den vergangenen Jahren in Syrien unterstützt und so „ein Monster geschaffen“, wie es der Oppositionspolitiker Nazmir Gür ausdrückte. Die Nationalistenpartei MHP nannte Isil ein „uneheliches Kind“ der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Dieser hoffte am Donnerstag auf eine rasche Freilassung der mehr als 40 Geiseln, die im türkischen Konsulat im irakischen Mossul in die Hand der Isis-Extremisten geraten waren.

Unter den Geiseln sind der türkische Konsul Öztürk Yilmaz und dessen zwei Kinder. Nach türkischen Medienberichten setzt die Regierung in Ankara bei den Bemühungen um eine Freilassung der Geiseln auf Verhandlungen und zieht eine militärische Intervention derzeit nicht in Betracht.

Doch selbst im Fall eines raschen Endes des Geiseldramas dürfte die Angelegenheit für die türkische Regierung längst noch nicht vorbei sein. Oppositionspolitiker in Ankara fordern, die Regierung solle im Parlament Rechenschaft ablegen. In der Zeitung „Milliyet“ war von einem Fiasko für die Türkei die Rede. „Isil ist jetzt unser Nachbar“, hieß es.

Fatih Altayli, Chef der regierungsfreundlichen Zeitung „Habertürk“, warf der Erdoğan-Regierung vor, Isil in Syrien im Kampf gegen Präsident Assad und im Vorgehen gegen das Autonomiestreben der syrischen Kurden unterstützt zu haben. Damit habe Ankara eine „Heimsuchung“ für die Türkei erschaffen. Das Land müsse sich nun auf Jahre hinaus auf einen „Terrorimport“ durch Isil einstellen.

Zudem deutete sich am Donnerstag bereits an, dass die Türkei wegen der Isil-Krise im Norden Iraks an Einfluss verlieren könnte. Die nordirakischen Kurden, die über reiche Einnahmen aus der Ölproduktion und mehrere tausend gut ausgebildete Kämpfer verfügen, übernahmen die Kontrolle über die Ölstadt Kirkuk und schufen damit Fakten: Der Status von Kirkuk, wo nicht nur Kurden, sondern auch Araber und Turkmenen leben, war bisher heftig umstritten. Die Türkei lehnt eine kurdische Herrschaft über die wichtige Stadt strikt ab – muss sie nun aber hinnehmen.

Die irakischen Kurden seien die „ersten Gewinner des Isil-Durcheinanders“ im Irak, kommentierte der in London lebende Türkei-Experte Ziya Meral. „Ab sofort könnte Kirkuk ganz ihnen gehören.“ Die Isil-Truppen wollen die von den gut ausgerüsteten Kurdenmilizen gesicherte Autonomiezone der Kurden Iraks offenbar nicht angreifen. Über die Lage im Irak hinaus könnte die Entwicklung die türkische Nahost-Politik zu einer grundsätzlichen Wende zwingen: Staatspräsident Abdullah Gül beschrieb die neuen Gefahren durch den Machtzuwachs der islamistischen Extremisten mit der Formel „Afghanistan am Mittelmeer“.

Gül und andere werben für eine stärkere regionale Zusammenarbeit, doch die Beziehungen Ankaras zu wichtigen Ländern wie Ägypten und dem Irak befinden sich in der Krise. Hier könnten die Isil-Erfolge eine Neuausrichtung bewirken. Zu einer realistischen Lagebeschreibung gehört, dass die von der Türkei ungeliebten Politiker Assad und Maliki weiter an der Macht sind, während al-Qaida in der Region immer stärker wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2014)

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