Israels Armee startet Bodenoffensive in Gaza

Israels Armee startet Bodenoffensive
Israels Armee startet BodenoffensiveREUTERS
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Der Infrastruktur der Hamas müsse "ein bedeutender Schlag" verpasst werden. Berichte über eine Einigung bei der Waffenruhe waren verfrüht.

Jerusalem. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat das Militär angewiesen, mit einer Bodenoffensive im Gazastreifen zu beginnen. Das geht aus einer am Donnerstagabend veröffentlichten Erklärung der israelischen Regierung hervor. "Nach zehn Tagen mit Angriffen der Hamas aus der Luft, vom Meer und am Boden sowie wiederholten Weigerungen, die Lage zu beruhigen, hat die Armee eine Bodenoffensive im Gazastreifen begonnen", teilte das Militär am Abend mit.

Es müsse eine Situation geschaffen werden, "in der Bewohner Israels in Sicherheit leben können", während gleichzeitig der Infrastruktur der Hamas "ein bedeutender Schlag" verpasst werde. Schon kurz zuvor hatte Israel seine Angriffe auf den palästinensischen Gazastreifen massiv verstärkt. Artillerie, Kampfhubschrauber und Kampfschiffe feuerten auf Ziele in den Ortschaften Beit Hanun und Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen, berichtete die Webseite "ynetnews". Augenzeugen berichteten, dass der Himmel über dem Gebiet immer wieder von Leuchtmunition erhellt wurde.

Meldungen über Einigung verfrüht

Zuvor gab es  diplomatischen Bemühungen um einen Waffenstillstand zwischen Israel und den Islamisten im Gazastreifen. BBC und Reuters hatten bereits am Donnerstagnachmittag über die Einigung der Parteien berichtet, ab heute sechs Uhr früh die Waffen endgültig ruhen zu lassen. Doch es kam schließlich anders.

Die von „Falken“ gestreute Spekulationen, die von einem bevorstehenden Einsatz von Bodentruppen wissen wollten, erwiesen sich als richtig. Die Berichte über eine Waffenruhe seien „weit von der Realität entfernt“, kommentierte Israels Außenminister, Avigdor Lieberman. Hamas-Vertreter räumten lediglich „Fortschritte“ bei den Verhandlungen in Kairo ein. Die Vermittlungen seien noch im Gange. Vor drei Tagen hat die Hamas das Angebot einer Waffenruhe ausgeschlagen.

Die gestrige auf nur fünf Stunden festgelegte Feuerpause hat indessen weitgehend gehalten. Zigtausende Palästinenser nutzten die kurze Zeit, um ihre Vorräte aufzustocken, bevor beide Seiten die Kämpfe wieder aufnahmen. An den Geldautomaten der Banken bildeten sich lange Schlangen, und zum ersten Mal seit Tagen haben sich Autos in den Straßen gedrängt. UN-Mitarbeiter verteilten Nahrungsmittel, Frischwasser und Toiletteartikel in den Flüchtlingslagern des Gazastreifens.

Tod am Strand

Israel hatte auf Drängen Robert Serrys, des UN-Sonderkoordinators für den Nahost-Friedensprozess, der befristeten Feuerpause zugestimmt. Dem Appell Serrys war der schockierende Tod von vier palästinensischen Buben am Dienstag vorausgegangen, die am Strand von Gaza Fußball spielten, als die Bombardierungen begannen. Die vier Cousins waren von dem Beschuss offenbar regelrecht verfolgt worden. Mehrere Auslandskorrespondenten hatten das bittere Schauspiel von einem nahe gelegenen Hotel aus beobachtet. Die Armee untersucht den Tod der Jungen. Israels Regierung äußerte Bedauern über den „tragischen“ Vorfall.

Bis zur letzten Minute vor der Feuerpause heulten am Donnerstag die Sirenen in weiten Teilen Israels auf, um die Bevölkerung vor den Raketenangriffen aus Gaza zu warnen. Genauso dauerten umgekehrt die israelischen Angriffe aus der Luft und vom Wasser bis zehn Uhr Vormittag, dem vereinbarten Zeitpunkt für die fünfstündige Waffenruhe, an. Am frühen Morgen hatten Soldaten eine Gruppe von 13 Palästinensern entdeckt, die durch einen geheimen Tunnel nach Israel gelangen wollten. Die allesamt schwer bewaffneten Männer flohen zurück in den Tunnel, als sie merkten, dass die Soldaten sie aufgespürt hatten. Unklar ist, ob und wie viele Terroristen beim anschließenden Bombardement der Tunnelöffnung umkamen. Insgesamt lag die Zahl der Todesopfer gestern Nachmittag bei 230 Palästinensern und einem Israeli.

Offiziell gaben humanitäre Gründe für Regierungschef Netanjahu den Ausschlag für die Entscheidung einer temporären Feuerpause. Gleichzeitig sollte die Bevölkerung in Gaza einen Eindruck von den Verwüstungen bekommen, die die israelische Luftwaffe zurücklässt. Viele Palästinenser hatten ihre Häuser seit Beginn der israelischen Militäroperation vor zehn Tagen nicht mehr verlassen.

Eine Eskalation vor dem Ende

Von wenigen Mörsergranaten am Kontrollpunkt Erez abgesehen hielten sich die Islamisten an die fünfstündige Feuerpause. Wahrscheinlich ist, dass nicht die Hamas die Granaten abgefeuert hatte, sondern eine andere Widerstandsgruppe. Zwei Minuten vor Ablauf der festgelegten Zeit heulten die Alarmsirenen in den israelischen Städten Ashkelon und Ashdod erneut auf. Kurz darauf nahm auch Israels Luftwaffe, die sich zuvor strikt an die Feuerpause gehalten hatte, die Bombardierungen vor allem auf drei Ortschaften im nördlichen Gazastreifen wieder auf. Nur gut 20.000 der über 100.000 palästinensischen Bewohner der fraglichen Region waren der Aufforderung der Armee nachgekommen, ihre Häuser zu verlassen.

Israelische Beobachter rechnen mit einer weiteren Eskalation, bevor der Gazastreifen wieder zur Ruhe kommt. Bei den letzten beiden kriegsähnlichen Kampfrunden vor zweieinhalb und viereinhalb Jahren intensivierten die Islamisten kurz vor Ende noch einmal deutlich die Angriffe auf Israel.

Psycho-Krieg

Ohne Angabe von Gründen sperrten die israelischen Sicherheitsdienste am Nachmittag mehrere Hauptstraßen im Süden Israels. Die „Jerusalem Post“ schrieb über einen „nicht erklärten Sicherheitszwischenfall“, die Armee verhängte eine Nachrichtensperre.

Denkbar ist, dass der Sicherheitsapparat einer von den Islamisten selbst gelegten falschen Spur nachgeht. Teil der aktuellen psychologischen Kriegsführung ist die Panikmache per SMS. „Selbstmordattentäter auf dem Weg nach Tel Aviv“, heißt es in einer dieser Falschmeldungen. In einer anderen SMS fordern die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der Hamas, in fehlerfreiem Englisch die „Bürger Israels“ auf, Druck auf die Regierung auszuüben, um „unsere Bedingungen“ für einen Waffenstillstand zu akzeptieren. (red.)

AUF EINEN BLICK

Nahost. Unter Vermittlung Ägyptens erreichten Israel und die Hamas eine Waffenruhe, die Freitagfrüh um sechs Uhr beginnen sollte. Eine Zustimmung des Sicherheitskabinetts in Jerusalem war vorerst ausständig – ebenso wie ein Bekenntnis der Hamas. Bereits am Dienstag hatte Israel eine Waffenruhe akzeptiert und auch sechs Stunden lang eingehalten, während die militanten Gruppen im Gazastreifen weiterhin ihre Raketen auf Israel abfeuerten. In Israel starb bisher ein Mann, im Gazastreifen gab es mehr als 220 Tote.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2014)

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