"Es war eine Massenhinrichtung"

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"Human Rights Watch“ legte eine 188-seitige Dokumentation des Rabaa-Massakers vor. Vor einem Jahr töteten Sicherheitskräfte an nur einem Tag 817 Demonstranten der Moslembrüder.

Kairo. Kurz nach Sonnenaufgang zischten die ersten Tränengas-Granaten durch Rabaa Adawiyya. Minuten später begann eine Armada aus Mannschaftswagen, Planierraupen, Bodentruppen und Scharfschützen vorzurücken, die das Feuer auf die schlaftrunkene Menschenmenge eröffneten. „Es war so grauenhaft, ich kann es nicht in Worte fassen", beschrieb ein Geschäftsmann die Szene, der sich an den Protesten beteiligt hatte. „Es hagelte Kugeln. Ich roch das Gas und sofort wurden Menschen um mich herum angeschossen und gingen zu Boden. Ich habe keine Ahnung, wie viele getroffen wurden. Wir haben keine Warnungen gehört, nichts. Es war die Hölle."

Am Abend des 14. Augusts 2013 waren nachweislich 817, wahrscheinlich mehr als 1000 Menschen tot, über 4000 verletzt, viele durch gezielte Schüsse in Kopf, Hals oder Herz. Human Rights Watch (HRW) spricht von „einer der größten Massenhinrichtungen von Demonstranten in der jüngeren Weltgeschichte" und wertet das Geschehene als „mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
In ihrer detaillierten 188-seitigen Untersuchung „Alles nach Plan - Das Rabaa-Massaker und die Massentötungen von Protestierern in Ägypten", die am Dienstag veröffentlicht wurde, fordert die in New York ansässige Organisation die Vereinten Nationen auf, die Rolle von Präsident Abdel Fattah al-Sissi sowie neun hochrangiger Politiker und Generäle bei den Gräueltaten zu untersuchen, darunter Innenminister Mohamed Ibrahim und Geheimdienstchef Mohamed Farid Tohamy.

Auf höchsten Ebenen geplant

„Es geht nicht nur um exzessive Gewaltanwendung und schlechte Ausbildung. Das war ein Akt der Gewalt, der auf den höchsten Regierungsebenen geplant wurde. Die meisten der Verantwortlichen sind noch immer an der Macht und müssen endlich zur Rechenschaft gezogen werden", erklärte HRW-Chef Kenneth Roth.
Zehntausende Menschen hatten am 3. Juli 2013 nach dem Sturz von Mohammed Mursi in Rabaa Adawiyya im Stadtteil Nasr-City sowie auf dem Al-Nahda-Platz im Stadtteil Dokki Protestcamps mit Zelten und Lautsprecherbühnen errichtet, um gegen das von der Armee erzwungene Ende der Muslimbruder-Herrschaft zu demonstrieren. In den zwölf Stunden der blutigen Räumung bewarfen Demonstranten die Einsatzkräfte mit Steinen und Molotow-Cocktails.

Nur wenige jedoch waren bewaffnet und schossen ihrerseits auf die Polizisten. Acht Beamte starben. Innenminister Mohamed Ibrahim gab später bekannt, insgesamt seien 15 Schusswaffen sichergestellt worden.

Mehr als 200 Zeugen befragt

„Human Rights Watch" befragte mehr als 200 Augenzeugen, darunter Demonstranten, Ärzte, Anwohner und Journalisten. Ihre Mitarbeiter waren während oder unmittelbar nach Beginn der Angriffe vor Ort. Für ihre Studie werteten sie Beweise, umfangreiches Filmmaterial sowie offizielle Erklärungen aus. Die beteiligten ägyptischen Ministerien allerdings weigerten sich, zu konkreten Fragen Stellung zu nehmen. Unter anderem waren auf Videos Scharfschützen mit 7,62 Millimeter Sturmgewehren zu sehen, begleitet von Zielsuchern mit Ferngläsern, die von Dächern aus die Opfer aussuchten. Sechs Zeugen gaben an, Polizisten hätten einige der gefangenen 800 Demonstranten einfach exekutiert, andere gefoltert und geprügelt. Ein Video dokumentiert, wie Polizisten in die provisorische Klinik neben der Moschee eindrangen und sofort auf einen am Boden liegenden Verletzten feuerten.

Eigentlich hatte „Human Rights Watch" seinen Bericht in Kairo vorstellen wollen, doch sowohl der Chef der Organisation, Kenneth Roth, als auch die Direktorin für den Mittleren Osten und Nordafrika, Sarah Leah Whitson, wurden „aus Sicherheitsgründen" an der Einreise gehindert und des Landes verwiesen. Seit einem Jahr läuft in Ägypten eine beispiellos-brutale Unterdrückungskampagne, zunächst gegen die Muslimbrüder inzwischen auch gegen die demokratische Jugendbewegung, die 2011 den Arabischen Frühling auslöste. Mehr als 40.000 Menschen sind seit dem Sturz Mursis verhaftet worden. In den Gefängnissen wird systematisch gefoltert. Die Gerichte verhängen massenhaft lange Gefängnisstrafen oder Todesurteile.

Dunkler Schatten auf Ägypten

„Die anhaltenden Versuche der Regierung, Oppositionelle auszuschalten, Menschenrechtsverletzungen unter den Teppich zu kehren und die Geschichte zu verfälschen, werden nicht auslöschen, was im letzten Jahr auf dem Rabaa-Platz geschehen ist", erklärte Kenneth Roth. Das Massaker werfe einen dunklen Schatten auf Ägypten. „Das Land wird nicht vorankommen, solange es sich nicht mit diesem Blutfleck auf sein

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