Kassandrarufe aus den USA: "Land im Verfall"

(C) Wild Bunch
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Politologen warnen vor der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Dem Mittelstand drohe unweigerlich der Abstieg zum "White Trash".

Capitol Hill in Washington – eine Ruine. Die beschädigte Kuppel könnte bald einstürzen, Büsche und Unkraut wuchern an dem Gebäude empor, das den US-Kongress beherbergt. Unter diesem Bild auf dem Cover einer Zeitschrift steht als Schlagzeile: „See America. Land of Decay & Dysfunction.“ Bei der Behauptung, die USA seien im Verfall und funktionierten nicht mehr, handelt es sich aber nicht um kommunistische Propaganda, sondern sie ist Leitmotiv der aktuellen Ausgabe von „Foreign Affairs“. Man wende den Blick diesmal nach innen, um die Quellen und Konturen der amerikanischen Malaise zu erforschen, schreibt die Redaktionsleitung im Editorial: Der Hegemon der Welt sei paralysiert und abgelenkt.

„Foreign Affairs“ ist die Plattform einer starken Denkfabrik, des Council on Foreign Relations. Es reiht sich nun kritisch bei jenen Propheten ein, die den USA eine beschwerliche Zukunft voraussagen. Parteien werden einer strengen Analyse unterzogen, die Bedrohung der liberalen Demokratie durch Populismus, etwa durch die extreme Tea Party, wird erörtert. Das Filetstück aber liefert der Politologe Francis Fukuyama, der mögliche Ursachen politischer Fehlfunktionen untersucht. Dieser Autor hat nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ab 1989 frei nach Hegels Universalphilosophie den Begriff vom „Ende der Geschichte“ geprägt. Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft hätten sich endgültig durchgesetzt gegen andere Gesellschaftsmodelle wie etwa den Marxismus, meinte Fukuyama.

Noch längst kein „Ende der Geschichte“

Seither hat dieser Gelehrte einige Revisionen vorgenommen, die schließlich zur Beschäftigung mit dem Niedergang seines Landes führten. Die meisten politischen Institutionen der Vereinigten Staaten seien im Verfall begriffen, behauptet er in „Foreign Affairs“ im Essay „America in Decay“ – ein Vorgeschmack auf sein demnächst erscheinendes Buch „Political Order and Political Decay“.

Das Gleichgewicht der Kräfte in dem Dreieck zwischen Exekutive, Legislative und Justiz, das eine funktionierende Demokratie ausmache, sei gestört. Politische Entscheidungen würden missbräuchlich immer mehr vom Kongress und den Gerichten, nicht aber von der Regierung des US-Präsidenten gefällt. Dadurch werde die Exekutive höchst ineffizient, denn die Prozessflut, die Verlangsamung politischer Entscheidungen und erratische Rechtspflege erschwerten mehr und mehr das Regieren. Auffällig sei das Wachstum der Lobbyistenzahl. 1971 waren in Washington 175 registriert, 2009 bereits 13.700. Sind also die Verhältnisse noch im Lot? Fukuyama zitiert zur Verneinung den verstorbenen Schwarzseher Samuel P. Huntington, der den Begriff „political decay“ geprägt hat (allerdings für neue Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, die unter Instabilitäten litten). Die dominierende Supermacht droht aus der Balance zu geraten. Kein Ende der Geschichte. Eindrücklich hat bereits im Vorjahr der Autor und Journalist George Packer die US-Misere in seinem ausgezeichneten Sachbuch „The Unwinding“ erfasst (ausführliche Rezension nächsten Samstag im „Spectrum“). Auf Reisen quer durchs Land filterte Packer heraus, dass sich die Mittelschicht seines Landes im Erosionsprozess befinde. Jeder, der um 1960 geboren wurde, könne diese langsame Abwärtsspirale nachempfinden.

Ein ganzes Land wie Wal-Mart: „Cheap“

Packer kontrastiert Porträts ganz gewöhnlicher Amerikaner mit phänomenalen Karrieren, wie etwa jener von TV-Star Oprah Winfrey oder von Machern im Silicon Valley. Er schildert den Verfall ganzer Industrien, den graduellen Abstieg durch die Jahrzehnte, er zeigt das Veröden einst ruhiger Vorstädte, die in Drogenproblematik versinken, die Härten auf dem Lande, die kleinen Leute im Überlebenskampf – und daneben die unstillbare Gier der Aufsteiger. Packer spart nichts aus. Zum Beispiel verfolgt er auf wenigen Seiten die ungeheure Karriere Sam Waltons, dessen gigantische Supermarktkette ab 1962 vom Mittelwesten aus die Staaten überzog, die Konkurrenz wie auch Zulieferer und Beschäftigte an die Wand drückte. Packers Schluss daraus: „Over the years, America had become more like Wal-Mart. It had gotten cheap. Prices were lower, and wages were lower.“ Das Land wurde billig, sein Herz aber wurde ausgehöhlt. Die Mitte verarmte.

Vor zwei Jahren hatte Charles Murray in „Coming Apart“ noch dringlicher vor einer Spaltung der US-Gesellschaft gewarnt. Der Politologe untersuchte speziell die weiße Bevölkerung und konstatierte, dass sich ihre Elite vom Rest immer mehr abkapsle. Dem Mittelstand drohe unweigerlich der Abstieg zum „White Trash“. Diese Entwicklung habe 1960 begonnen. Tugenden wie Fleiß, Familie, Religion würden kontinuierlich an Wert verlieren. Auch hier spürt man (mit moralischem Unterton) die Sehnsucht nach einer Gründerzeit. Glorifiziert wird aber von beiden Autoren jene Ära vor gut 50 Jahren, als die Amerikaner offenbar mehrheitlich das Gefühl hatten, eine „great society“ zu sein.

BÜCHER ZUM THEMA

Francis Fukuyama: „Political Order and Political Decay: From the French Revolution to the Present“ (Farrar, Straus & Giroux, 2014)

George Packer: „The Unwinding: An Inner History of the New America“ (Farrar, Straus & Giroux, 2013)

Charles Murray: „Coming Apart. The State of White America, 1960–2010“ (Crown Forum, 2012)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2014)

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