Warum sich die IS-Extremisten in Nahost breitmachen können

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Unter arabischen Religionsgelehrten bleibt der IS-Fundamentalismus tabu. Und Staatschefs fehlt der Wille, den IS zu stoppen.

Der Arabische Frühling wirkt wie ein Traum aus fernen Tagen. So gut wie alle Hoffnungen sind zerstoben, viele Protagonisten sitzen im Gefängnis. Stattdessen erfährt der Orient mit der blutigen Expansion des Islamischen Staates (IS) eine Zäsur ganz anderer Art, die Züge einer historischen Kernschmelze trägt. Für die marode arabische Staatlichkeit schlägt die Stunde der Wahrheit. Jeder denkbaren Koalition arabischer Potentaten fehlt die Kapazität, mit dem IS fertigzuwerden. Zugleich haben die blutrünstigen Gotteskrieger – im Wechselspiel mit dem hilflosen Formel-Islam des geistlichen Establishments – die tiefste Legitimationskrise ihrer Religion in der Moderne ausgelöst.

„Zionistische Verschwörung“

Der Chefgelehrte von Kairos al-Azhar, die sich im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte den IS eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen soll. Der saudische Obermufti brauchte mehr als zwei Monate, bis er zu den Islam-Barbaren den Mund aufmachte. Tabu bleibt auch die ideologische Verwandtschaft zwischen Saudiarabiens salafistischen Weltmissionaren und dem IS-Verhaltenskodex. Kein Wunder, dass niemand mehr überzeugend erklären kann, wie das moralische Fundament des Islam aussieht. Der sunnitische Islam kann seine Kernbotschaft nicht mehr kohärent formulieren und vermitteln. Traditionelle Theologie und Ausbildung sind modernen Herausforderungen nicht gewachsen. Das Bildungsniveau arabischer Prediger ist miserabel.

Hand in Hand mit der religiösen Fundamentalkrise geht die Erosion der arabischen Staatspraxis. Die eine Hälfte der 22 Nationen sind gescheiterte Staaten, die andere Hälfte hyperautoritär – darunter ist keine einzige funktionierende Demokratie. Vor allem der Putsch in Ägypten im Sommer 2013 war ein Rückschlag für demokratische Ambitionen: Ägypten ist zurückgekippt in den Polizeistaat – noch erratischer, hemmungsloser und zwanghafter als der Mubarak-Vorgänger.

Gleichzeitig sind die 350 Millionen Araber – zieht man das sprudelnde Rohöl einmal ab – wirtschaftlich wenig produktiv, wissenschaftlich abgehängt und ineffizient. Ohne ihr Migrantenheer wäre die Golfregion ein unwirtliches Entwicklungsgebiet. Die arabischen Mittelmeerstaaten werden zerfressen von Korruption und politischer Inkompetenz. Nirgendwo ist ein tragfähiges Gewebe zivilgesellschaftlicher Kräfte gewachsen.

Und so haben weder Chefprediger noch paternalistische Staatslenker die Kraft, den IS-Spuk zu beenden. Keine der Machteliten will mehr tun, als bombastische Reden zu halten. Dem Islamischen Staat könnte das erlauben, sich im Herzen der Region festzusetzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2014)

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