Von IS verschleppt: „Sie verkaufen Frauen auf Sklavenmärkten“

Auf der Flucht vor IS. Yezidische Frauen und Kinder im Visier der Extremisten.
Auf der Flucht vor IS. Yezidische Frauen und Kinder im Visier der Extremisten.(c) REUTERS
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Mindestens 800 yezidische Frauen wurden von der Extremistenorganisation Islamischer Staat (IS) verschleppt. Die 28-jährige Siham ist eines dieser Opfer.

Man hört Siham weinen. „Sie verprügeln uns, brechen uns Arme und Beine“, berichtet die 28-Jährige mit bebender Stimme am Telefon. „Eine Frau, die im dritten Monat schwanger war, verlor ihr Ungeborenes durch Schläge. Danach wurde sie mitgenommen. Wenn ihnen eine von uns gefällt, wird sie verschleppt und erst nach einer Stunde zurückgebracht.“

Einmal in der Woche gelingt es Siham, mit ihrem Bruder Xairi A. über Mobiltelefon zu kommunizieren – heimlich, denn die junge Frau befindet sich wie viele andere yezidische Zivilisten in den Händen der Extremisten des Islamischen Staats (IS). Siham berichtet, dass sie in einem leer stehenden Gebäude mit 26 anderen Frauen, Neugeborenen und Kindern festgehalten wird. Sie erhalten nur verschimmeltes Brot und abgestandenes Wasser. Die Kinder bekommen davon Durchfall. Medizinische Versorgung oder Windeln und Trockenmilch für die Kleinkinder werden den Gefangenen von den Extremisten verwehrt.

Morde und Zwangsehen

Der IS hat im August eine Offensive gegen die Gebiete der Yeziden gestartet, die vorwiegend in der Region entlang der syrischen Grenzen zum Irak leben. Auf ihrem Feldzug gegen die aus Sicht der IS „Ungläubigen“, die sogenannten „Kafir“, machen die Extremisten auch nicht halt vor Massenhinrichtungen, Sklavenhandel und Zwangsehen. Die Menschen in den eroberten Gebieten werden aufgefordert, entweder zum Islam zu konvertieren und sich IS anzuschließen, oder sie werden umgebracht. Aus Sicht der Yeziden ist das der 74. Genozid in ihrer 6000 Jahre alten Geschichte.

„Manchmal reißen sie den Frauen die Neugeborenen aus den Armen und lassen sie am Boden liegen“, erzählt die gefangene Yezidin Siham verzweifelt am Telefon. „Die Mütter werden dann auf den Sklavenmärkten verkauft.“

„Wir flohen in der Nacht“

Sihams ganze Familie hat unter dem IS-Angriff gelitten. Auf einer dünnen Matratze sitzen Sisi und Kujer schweigsam in ihren weißen Kleidern vor der grauen Mauer der Grundschule. Sisi und Kujer sind die Tanten der entführten Siham. Ihr Blick ist auf den Eingang des kleinen Schulhofs gerichtet. Beide stammen aus dem Dorf Snuny, 150 Kilometer westlich von Mosul. Seit sie vor dem Einmarsch der IS-Extremisten geflüchtet sind, leben sie mit 47 weiteren Personen in einer leer stehenden Grundschule nahe der Stadt Suleimania in Iraks autonomer Kurdenregion.

„Als IS das Nachbardorf Kocho einnahm, haben wir alles zurückgelassen und sind so schnell wie möglich Richtung Sinjar-Gebirge geflohen“, berichtet Sisi. „Wir bekamen mitten in der Nacht des 3.August 2014 einen Anruf von Bekannten, die aus Kocho fliehen konnten. Sie sagten, es gebe keinen Schutz mehr, wir sollen so schnell wie möglich das Dorf verlassen. Also packten wir das, was wir tragen konnten, und liefen weg“, sagt Sisi. Kujer, die ältere der beiden, erzählt starr und offenbar traumatisiert: „Sie haben den Mann meiner Schwester Manja in Kocho ermordet. Fünf ihrer Töchter haben sie mitgenommen.“ Manjas 13-jähriger Sohn wurde ebenfalls getötet. Die fünf Töchter wurden später von einem Geschäftsmann freigekauft.

Zahlreiche junge Frauen wurden von den IS-Kämpfern noch in den Dörfern vergewaltigt oder zu Hunderten in Pick-ups und Bussen in die von IS eingenommenen irakischen Städte Tal Afar, Mosul und nach Raqqa in Syrien verfrachtet.

„Diese Frauen werden auf den Sklavenmärkten gehandelt und in Zwangsehen gesteckt. Sie werden vergewaltigt und misshandelt. Manchmal haben wir die Möglichkeit, heimlich mit den Frauen per Telefon zu reden. Es geht ihnen wirklich schlecht“, berichtet Xanim I., Leiterin des Frauenvereins Asuda in Suleimania. Durch Kundgebungen und Unterschriftensammlungen versucht ihr Verein Aufmerksamkeit für das Problem der versklavten Frauen zu schaffen. In der Hoffnung, dass wenigstens einige der etwa 800 verschleppten yezidischen Frauen und Mädchen frei gelassen werden. „Wir versuchen alles – aber seit wann hört der IS auf Zivilisten, geschweige denn auf Menschenrechtsorganisationen?“, bemerkt sie.

Frauen als Beutegut

Die Legitimation für den Sklavenhandel mit Frauen und Mädchen wird von den Extremisten des Islamischen Staates mit Suren im Koran verteidigt, etwa mit Al-Baqara, An-Nisa, An-Nur. Anfang des siebenten Jahrhunderts wurden im Jihad, dem Heiligen Krieg, weibliche Kriegsgefangene genommen und als Konkubinen und Sklavinnen gehalten. Dazu kommt das islamische Pendant zur legalen Prostitution: Die sogenannte Mut-a, also Zeitehe oder Genussehe, erlaubt es einem Mann, den Geschlechtsakt mit fremden Frauen für eine begrenzte Zeitspanne und Brautgabe, die hier als Entgelt für den Sex zu verstehen ist, auszuüben.

Für die Opfer des Sklavenhandels durch IS sind die Folgen verheerend. Die entführten Frauen und Mädchen müssen gegen ihren Willen oft nicht nur einen anderen Glauben annehmen. Sie werden zum Geschlechtsverkehr mit unzähligen Männern gezwungen und sehen oft keinen anderen Ausweg als Selbstmord. Die 28-jährige Siham ist eine dieser gepeinigten Frauen – gefangen vom Islamischen Staat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2014)

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