Die KP hat mit der Absage der Direktwahl die Hongkonger verärgert. Doch der Mittelschicht geht es nicht nur um Demokratie: Sie fürchtet um ihre Existenz.
Dass nun Zehntausende in der sieben Millionen Einwohner zählenden Stadt Hongkong für mehr Demokratie auf die Straße ziehen und sogar bereit sind, mit Occupy Central, der Blockade des Finanzviertels, das Herzstück der Wirtschaftsmetropole lahmzulegen, scheint die kommunistische Führung in Peking zu überraschen. Genau das ist das Problem. Die wahren Gründe, weshalb nicht nur eine kleine oppositionelle Minderheit, sondern die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße gehen, hat die chinesische Führung nicht erkannt: Es sind die wirtschaftlichen Nöte.
Seitdem Festlandchinesen fast ohne Beschränkungen Hongkong besuchen und Wohnungen, Geschäftsräume und Häuser erwerben dürfen, platzt die Metropole aus allen Nähten. Die Immobilienpreise sind ins Unermessliche gestiegen. Viele traditionelle Restaurants und Geschäfte können sich nicht mehr halten, weil die Mieten aufgrund der völlig deregulierten Märkte in astronomische Höhe geschossen sind. Deswegen müssen auch immer mehr Hongkonger in die weit entfernten Satellitenviertel ziehen oder gleich auf die andere Seite der Grenze zur Volksrepublik, wo die meisten von ihnen nie hinwollten. Die Industrie ist ebenfalls über die Grenze auf das chinesische Festland abgewandert. Zwar ist Hongkong schon immer eine Einwanderungsstadt gewesen, doch einen solchen Ausverkauf wie derzeit hat die Metropole in ihrer knapp 180-jährigen Geschichte noch nicht erlebt.
Verdrängung aus der eigenen Stadt
Hinzu kommen die vielen Touristen vom Festland. An sämtlichen Wochenenden und Feiertagen ist auf Hongkongs Geschäftsstraßen und in den Einkaufszentren kein Durchkommen mehr. Zu Hunderttausenden überschreiten Chinesen die Grenzen und belagern die Innenstadt. Das kurbelt zwar die Wirtschaft an. Wer jedoch nicht in der Tourismusbranche tätig ist oder in der Finanzwelt lebt, findet kaum ein Auskommen mehr und fühlt sich aus seiner eigenen Stadt verdrängt. Während Hongkongs Superreiche immer reicher werden, schrumpft die Mittelschicht und droht zu verarmen. Die hohe Protestbereitschaft der Hongkonger zeigt, dass viele der Auffassung sind, nicht mehr viel verlieren zu können.
Angeheizt wird der allgemeine Unmut von dem sogenannten Weißen Papier, das Peking im Juli veröffentlicht hat und indirekt den bisherigen Sonderstatus infrage stellt. Nach dem Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ genoss die ehemalige britische Kronkolonie auch nach der Rückgabe an die Volksrepublik Teilautonomie mit Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Dass die chinesische Führung nun ihre Zusage zurücknimmt, den Hongkonger Regierungschef 2017 doch nicht direkt und frei wählen zu dürfen, nährt die Angst in der Bevölkerung, dass Hongkong seine Sonderrechte vollends verlieren wird. Auch unter britischer Kolonialherrschaft war es den Bürgern der südchinesischen Wirtschaftsmetropole nicht möglich, ihr Stadtoberhaupt frei zu wählen.
Dass Peking nicht allzu viel von Demokratierechten hält – daraus macht die Führung kein Hehl. Doch dass die offiziell sich als kommunistisch bezeichnende Führung auch die soziale Misere nicht erkannt hat, lässt zweifeln, inwiefern die Spitzenkader wirklich in Marx'scher Theorie geschult sind.
Stattdessen hat Peking die Finanzmetropole als Versuchslabor des Kapitalismus missbraucht, einiges aber am Vorgehen ihres Vorgängers nicht verstanden. So kapitalistisch die Briten Hongkong geführt und mit Steuerfreiheit das Geld aus aller Welt in die südchinesische Hafenstadt gelockt haben – Hongkong hatte zugleich eines der umfassendsten sozialen Wohnungsbauprogramme. Das hat den sozialen Frieden gesichert.
Hat Hongkongs Entwicklung auch Signalwirkung für das restliche China? Ja, denn im Rest des Landes ist die KP-Führung auf dem sozialen Auge ebenso blind.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2014)