Türkei im Bann der konservativen Welle

ANALYSE. Der unsichtbare „Druck des Stadtviertels“ zwingt vielen Türken – vor allem auf dem Land – eine islamische Lebensweise auf.

Istanbul. Das Schlagwort heißt „Druck des Stadtviertels“. In dieser Phrase kulminieren die diffusen Ängste, die viele säkulare Türken gegenüber der islamisch-konservativen AKP von Premier Tayyip Erdogan hegen. Diffus deshalb, weil die AKP zwar seit fünfeinhalb Jahren an der Macht ist, in dieser Zeit aber kein einziges Gesetz gemacht hat, das den Koran zur Grundlage nimmt. Trotzdem trauen Erdogan noch immer viele Türken nicht über den Weg, denn sie glauben, dass ihre säkulare Lebensweise trotzdem in Gefahr ist.

Das „Stadtviertel“, also die weitere Nachbarschaft, übe etwa Druck auf die Frauen aus, das Kopftuch zu tragen oder auf Wirte, keinen Alkohol auszuschenken und zur Fastenzeit tagsüber überhaupt zu schließen.

An der Mittelmeerküste und in weiten Teilen Istanbuls merkt man nichts von diesem „Druck des Stadtviertels“ oder zumindest nicht jeder und nicht überall. Aber es kann schon schwierig werden, wenn man nur ein paar Viertel weiter sieht. So traut sich Gül Dogan, die in Wirklichkeit anders heißt, in ihrer Sommerkleidung mit offenen Schultern nicht überall hin. Sie sitzt in einem Café in Istanbuls Vergnügungsviertel Beyoglu und ist empört: „Dies ist mein Land und ich kann nicht gehen wohin ich will, nicht in jedes Stadtviertel!“ Dabei verwahrt sie sich dagegen, mit der elitären und nationalistischen Opposition gegen die AKP in einen Topf geworfen zu werden: „Die Türken, die nicht ständig mit der Fahne herumlaufen, sieht Europa nicht,“ meint sie.

Der Premier schweigt

Tarhan Erdem war einmal führender Politiker der kemalistischen CHP, hat sich aber von ihr abgewandt, weil sie nur den Säkularismus, nicht aber demokratische Freiheiten verteidigt. Zu heftigen Reaktionen bei den alten Genossen führte vor einem Jahr seine Prognose, die AKP würde die Parlamentswahl gewinnen. Am Ende hat er das Ergebnis genau getroffen.

Trotzdem teilt er einige der Befürchtungen seiner alten Parteifreunde. In Anatolien gebe es Hunderttausende, die auf ihre Mitbürger Druck ausübten, nach islamischen Grundsätzen – oder dem, was sie dafür ansehen – zu leben. Es sei von eminenter Bedeutung, dass der Premier dazu schweige, dass er nie sage, man solle auch andere Lebensstile akzeptieren. Tatsächlich ist der „Druck des Stadtviertels“ für die AKP nur eine Erfindung.

Ende für Schweinemast

Es gibt indes auch aktive Unterstützung für die islamisch-korrekte Lebensweise. Das Landwirtschaftsministerium hat mit unterschiedlichen Begründungen alle Schweinemast-Betriebe in der Türkei zusperren lassen. Freilich wurden wieder welche aufgemacht, doch Schweinefleisch ist nur zu bekommen, wenn man sich gut auskennt und bereit ist, einen sündhaften Preis zu zahlen.

Einem Aufruf von 700 Wissenschaftlern, Darwins Evolutionstheorie an den Schulen zuzulassen, ist das Erziehungsministerium nicht gefolgt. Stattdessen kann man in Istanbul an Dutzenden Orten, auf öffentlichen Plätzen und in städtischen Ausstellungsräumen die pseudowissenschaftliche Ausstellung einer obskuren Sekte sehen, die Darwins These angeblich widerlegt. In der Provinz werden Haare vom Barte des Propheten Mohammed herumgefahren und ausgestellt. Der Ruf nach Religionsfreiheit, den die AKP anstimmt, wenn es um das Recht geht, überall ein Kopftuch tragen zu dürfen, verstummt sofort, wenn religiöse Minderheiten Rechte einfordern.

Die Alewiten sollen in die Moschee gehen, anstatt sich in ihren „Cemevi“ unter sich zu versammeln, heißt es, ihre Kinder werden weiter zum sunnitisch-islamischen Religionsunterricht gezwungen. Dem Orthodoxen Patriarchen wird ein eigenes Priesterseminar weiter verweigert.

Überfall auf Demonstranten

Nicht nur Minderheiten klagen, sondern auch die Gewerkschaften: Die AKP ist durch und durch von einem paternalistischen Geist geprägt. Gewerkschaften werden mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft. Die Spitze des Eisbergs waren die brutalen Überfälle der Polizei auf friedliche Demonstranten am 1. Mai dieses und des vergangenen Jahres.

Okay Gönensin, Kolumnist der Zeitung Vatan, meint, Erdogan vertrete die Kultur der türkischen Kleinstadt, religiös und paternalistisch, mit engen Rollen für die Geschlechter. Nimmt man sein Kabinett, so gibt es nur einen Lebensstil: Die Frauen aller Minister tragen das Kopftuch in seiner aus Saudiarabien importierten Form als eng geschlungener „Türban“. Die Töchter studieren mit „Türban“ meist im Ausland, doch keine der Ehefrauen oder Töchter übt einen Beruf aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2008)

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