Ukraine: Schockwellen der Georgien-Krise erreichen Kiew

Prowestliches Lager sieht Nato-Beitritt als Frage des staatlichen Überlebens. Doch die Führung streitet weiter.

WARSCHAU/KIEW. Bis vor wenigen Tagen hat sich die Ukraine sicher gefühlt. Zwar liegt das Land seit seiner Unabhängigkeit Anfang der Neunzigerjahre ständig im politischen Clinch mit Russland, doch wirklich bedroht sahen sich die Ukrainer von ihrem großen Nachbarn nicht. Diese Stimmungslage hat sich seit dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien radikal geändert.

Derzeit werden in Kiew viele Parallelen zwischen der Ukraine und dem von den russischen „Friedenstruppen“ verwüsteten Land im Kaukasus gezogen. Beide post-sowjetischen Staaten haben einen großen russisch-stämmigen Bevölkerungsanteil, in beiden Ländern stehen russische Truppen. Die Halbinsel Krim und die dort stationierte russische Schwarzmeerflotte sind seit Jahren ein Streitthema.

Die Regierungen in Kiew und Tiflis streben nach Westen, der aber die Ambitionen beider Staaten zu bremsen versucht. Deutlich wurde dies zuletzt in der Frage eines Nato-Beitritts. Statt der erhofften Aufnahme in das Vorbereitungsprogramm für einen solchen Beitritt wurden beiden Regierungen auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April lediglich vage Aufnahmeperspektiven angeboten.

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien – sind die prowestlichen Kreise in Kiew überzeugt – ist eine Aufnahme ins nordatlantische Verteidigungsbündnis nicht mehr nur eine Frage der Zeit, sondern eine Frage des Überlebens als unabhängiger Staat.

„Nato jetzt!“ fordert aus diesem Grund die einflussreiche Tageszeitung „Kyiv Post“ kategorisch in einem Leitartikel. Dieser Aufruf richtet sich allerdings nicht nur an den Westen, sondern vor allem an die eigenen Politiker. Die sollten endlich ihre persönlichen Querelen beenden und daran arbeiten, die Hauptargumente gegen einen Beitritt des Landes zu entkräften. Das heißt, die politischen Institutionen zu stärken und die mehrheitlich noch zweifelnde Bevölkerung vom Vorteil eines Nato-Beitritts zu überzeugen.

„Hochverräterin“ Timoschenko?

Freilich, die verfeindeten Politiker des Regierungslagers denken offenbar gar nicht daran, solche Appelle zu befolgen und ihren Dauerstreit zu beenden. So beschuldigte am Montag der Vizechef der Präsidentschaftskanzlei, Andrij Kislinskij, die Regierungschefin Julia Timoschenko des „Hochverrats und der politischen Korruption“. Timoschenko habe den russischen Feldzug gegen Georgien nicht verurteilt und sei offenbar im russischen Interesse aktiv. Kisilinskij erklärte dies damit, dass die Regierungschefin sich offenbar um Unterstützung aus dem Kreml für die Präsidentschaftswahl Ende 2009 bemühe. Der jetzige Präsident Viktor Juschtschenko, den Timoschenko im Amt ablösen will, steht im jetzigen Kaukasus-Konflikt voll auf der georgischen Seite.

Mit einiger Erleichterung wird in Kiew zur Kenntnis genommen, dass der Westen inzwischen mit deutlichen Worten den Feldzug Russlands verurteilt und die Nato-Perspektive von Georgien und damit auch der Ukraine demonstrativ betont.

Klar ist allen Lagern in Kiew, dass der Kreml die ukrainischen Nato-Ambitionen weiter torpedieren wird. „Die Ziele der Russen sind klar“, erläuterte jüngst Jurij Kljutschkowskyj, Parlamentsabgeordneter des Bündnisses „Unsere Ukraine“: „Die Nato will keine Länder aufnehmen, in denen es Konflikte gibt. In Georgien bestehen sie bereits und in der Ukraine, so die Überlegung Russlands, könnte man sie noch schaffen.“

Die Vertreter der Opposition, angeführt von der „Partei der Regionen“, befürworten indes weiter einen blockfreien Status für die Ukraine. Kiew dürfe sich keiner Seite anbiedern. Denn nur eine Ukraine, die gute Beziehungen zu allen Nachbarn habe, sei eine wirklich sichere Ukraine.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2008)

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