Die Parlamentswahlen in der Ukraine verliefen großteils friedlich. Prorussische Kämpfer eröffneten im Gebiet Donezk das Feuer auf ukrainische Wähler.
In der Oberschule Nummer 157 im Kiewer Stadtteil Obolon hält sich der Andrang der Stimmbürger am Sonntagmittag in Grenzen. Vor den fünf Tischen der Wahlkommission bilden sich keine Schlangen wie noch bei den Präsidentenwahlen im Mai. Zwei ältere Frauen zeigen ihre Pässe her und bekommen gegen Unterschrift je zwei rund 70 Zentimeter lange Stimmzettel ausgehändigt. Je 28 landesweite Parteilisten und lokale Direktkandidaten stehen zur Auswahl.
Bisher unbekannte Parteien wie Neue Politik, Frauensolidarität oder Kraft des Volkes deuten auf den tiefen Wunsch nach Erneuerung der ukrainischen Politik hin. Eine Partei verspricht gar ein Land ohne Steuern. „Nur am frühen Morgen hatten wir eine kleine Schlange“, berichtet Wolodymyr Semenenko, der hiesige Wahlkommissionsleiter. „Bisher war es zum Glück auch friedlich und ruhig.“
85.000 Sicherheitskräfte im Einsatz
Die Sicherheitsvorkehrungen für die Wahl sind wegen des brodelnden Konflikts in der Ostukraine groß. 85.000 Sicherheitskräfte wurden zum Schutz der Wahllokale abgestellt. Doch außer Schüssen prorussischer Bewaffneter auf eine Gruppe ukrainischer Wähler am Stadtrand von Donezk kam es bis Sonntagnachmittag zu keinen ernsthaften Zwischenfällen. In den von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten des Donbass, darunter den Großstädten Donezk und Luhansk, sowie auf der von Russland im Frühling annektierten ukrainischen Halbinsel Krim, konnten die vorgezogenen Parlamentswahlen nicht stattfinden. Rund jeder Zehnte der 36 Millionen Wahlberechtigten war damit von der vorgezogenen Parlamentswahl ausgeschlossen. Die selbst ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Luhansk haben angekündigt, Anfang November eigene Wahlen abzuhalten.
Breite Koalition angekündigt
„Ich habe für den Frieden gestimmt“, sagt Elena, eine junge Frau im Rollstuhl vor dem Wahllokal 217 im Schatten der bekannten Bierbrauerei Obolon. Frieden in der Ostukraine soll für sie die Partei Starke Ukraine des einstigen Wahlkampfchefs des nach dem Sieg der Maidan-Revolution im Februar nach Russland geflohenen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch bringen. Die vor allem in der Ostukraine verankerte Partei pendelte in den meisten Umfragen um die Fünfprozenthürde. Elena hofft, dass Starke Ukraine in die Regierungskoalition aufgenommen wird. „Wie in der Wirtschaft befördert auch politische Konkurrenz die Qualität einer Koalition.“
Staatspräsident Petro Poroschenko, dessen EU-freundlicher Präsidentenblock in allen Meinungsumfragen mit bis zu 35 Prozent haushoch führend war, hatte in den letzten Tagen vor der Wahl das Bestreben nach einer möglichst breiten Koalition angedeutet. Ob es wirklich dazu kommt, ist ungewiss.
Möglich ist dank der landesweit 199 Direktkandidaten in Einerwahlkreisen auch eine absolute Mehrheit für den Petro-Poroschenko-Block. Denn bisher war es in der Ukraine üblich, nach der Wahl Mehrheiten durch den Kauf von unabhängigen Direktkandidaten zu zimmern.
Im Stadtteil Obolon repräsentieren die beiden wohl aussichtsreichsten der 28 Direktkandidaten das Dilemma des ganzen Landes. Der 32-jährige Immobilienmagnat Wadim Stolar mit seinem unermesslichen Vermögen unklaren Ursprungs steht dem 35-jährigen Kommandanten des in der heutigen Frontstadt Mariupol stationierten Freiwilligenbataillons Azow, Andrej Bilezkij, gegenüber. Stolar gibt sich in seinem Wahlprogramm salbungsvoll sozial, der Kriegsheld Bilezkij hat dafür nur sechs Worte nötig: „Starke Nation – saubere Regierung – mächtiger Staat.“
Oleh und Taras haben ihre Stimme dem Kommandanten gegeben. „Diese Wahl war sonnenklar“, sagt Taras. Doch bei der Parteiliste sind sich die beiden Freunde nicht mehr einig. Taras wählte die Volksfront des heutigen Premierministers Arsenij Jazenjuk. „Neben dem Kriegsgewinn gegen Russland müssen wir auch den Kampf gegen die Korruption gewinnen“, argumentiert er.
Am Rand des Wahltags gab es auch gute Nachrichten: Die Ukrainische Wählervereinigung meldete gestern, sie hätte dreimal weniger Wahlgesetzverletzungen beobachtet als bei den Parlamentswahlen 2012 unter Präsident Viktor Janukowitsch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2014)