Mumbai: Auf Entsetzen folgt die Wut

(c) AP (David Guttenfelder)
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Nach der beispiellosen Terrorserie wirft man in Indiens Finanzmetropole den Sicherheitskräften vor, dass sie auf die Attentate nicht vorbereitet waren. Innenminister Shivraj Patil hat seinen Rücktritt angeboten.

Dutzende Demonstranten haben sich vor dem Taj-Mahal-Hotel in Mumbai (Bombay) versammelt. Sie tragen Plakate, skandieren Sprechchöre. Nervöse Polizisten begleiten den Protestzug. „Setzt das System ab!“, schreien die Demonstranten. Auf einem Plakat steht: „Was ist schiefgelaufen?“ Entsetzen und Lethargie verschwinden langsam aus Mumbais Straßen. Die Stadt überwindet ihren Schock. Doch nun bricht sich schiere Wut ihre Bahn.

Viele Menschen können es nicht verstehen, wie eine kleine Gruppe von Terroristen vollkommen unbehelligt in Indiens Wirtschaftsmetropole eindringen, ein Blutbad anrichten und hunderte Geiseln nehmen konnte. Nach neuesten Erkenntnissen haben vielleicht sogar weniger als ein Dutzend junge Männer Anfang 20 das tagelange Terrorinferno entfacht.

Als erste Reaktion auf die Attentate mit 180 Toten reichte am Sonntag Indiens Innenminister Shivraj Patil seinen Rücktritt ein. Er wolle damit für das, was geschehen ist, die „moralische Verantwortung übernehmen“. Patil stand schon lange in der Kritik. Indien hat dieses Jahr schon eine Reihe sehr schwerer Anschläge gesehen. Jedes Mal erklärte Patil, die Täter würden bestraft und die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Jedes Mal folgte ein weiterer Terrorakt.

„In den USA hat es nach dem 11. September keine weiteren Anschläge gegeben. Wieso bekommt Indien das nicht in den Griff?“, fragt P. K. Subramanian. Der Mann Anfang vierzig mit Glatze, Nickelbrille und blauem Hemd stammt aus dem Süden Indiens und arbeitet seit zwölf Jahren in Mumbai.

„Es hätte bessere Sicherheitsmaßnahmen geben müssen“, sagt er und starrt ungläubig auf das verwüstete Nariman House. In dem jüdischen Zentrum hatten sich bis zuletzt zwei Attentäter verschanzt und allen Angriffen indischer Sondereinheiten getrotzt. Am Ende waren alle tot: die zwei Angreifer, der Rabbiner des Zentrums, Gavriel Holtzberg, seine Frau Rivka und sieben weitere Menschen, vermutlich alle Israelis.

„Muslime sind nicht loyal“

Die Umgebung sieht aus, als hätte ein wochenlanger Häuserkampf getobt. Viele Fassaden sind zerschossen. Handgranaten-Detonationen haben Scheiben zerbrochen, Fensterrahmen hängen an den Hauswänden herunter.

„Und wieder waren es Muslime. Die sind nicht loyal. Nicht loyal zu unserer Nation“, meint ein Passant. Das dürfte eines der Ziele der Attentäter gewesen sein: den Riss zwischen Hindus und Muslimen, der sich quer durch Indiens Gesellschaft zieht, weiter zu vertiefen.

Laut Berichten indischer Tageszeitungen sollen sich zwei der Attentäter bereits Tage vor den Anschlägen ein Zimmer im Taj-Mahal-Hotel genommen haben. In Zimmer 615 hätten sie ihr „Kommandozentrum“ eingerichtet, nach und nach die Waffen in das Luxushotel geschafft und sich einen genauen Überblick über das Gebäude verschafft.

Unterdessen wird immer klarer, dass zumindest einige der Attentäter tatsächlich aus Pakistan stammen. Azam Amir Kasav, der einzige Attentäter, der überlebt hat, ist Pakistani. Derzeit wird er von der Polizei verhört. Nun hängt es von der Besonnenheit der Politiker Indiens und Pakistans ab, ob die Spannungen zwischen den beiden atomar bewaffneten Erzrivalen weiter zunehmen.

Säbelrasseln der Erzfeinde

Pakistans Außenminister Shah Mehmood Qureshi hat Indien bereits vor einer Eskalation gewarnt: Notfalls würde Pakistan sofort Truppen aus den Grenzgebieten zu Afghanistan abziehen und an die Grenze zu Indien verlegen. Er kündigte aber auch an, ein Vertreter des pakistanischen Geheimdienstes werde für gemeinsame Ermittlungen nach Neu Delhi reisen. Dort versucht man offenbar, die Spannungen nicht zu sehr steigen zu lassen. Aus regierungsnahen Kreisen hieß es, Indien werde seine Truppen entlang der Grenze zu Pakistan nicht verstärken.

Die Anschläge in Mumbai

Von Mittwoch, den 26. November bis Freitag, den 28. November verübten Terroristen Anschläge auf den Bahnhof, Krankenhäuser, Luxushotels und ein jüdisches Zentrum in der Finanzmetropole Mumbai.

Offiziellen Angaben zufolge starben bei den Anschlägen 172 Personen, weitere 239 wurden bei den Terrorangriffen verletzt.

Zu den Überfällen bekannte sich die bisher kaum in Erscheinung getretene islamische Gruppe "Deccan Mujahideen". Nach Angaben der indischen Behörden stammt der einzige überlebende Angreifer aus Pakistan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2008)

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