Russland: Moskaus Elite ist nervös geworden

(c) Reuters (Sergei Karpukhin)
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Die Wirtschaftskrise wächst sich immer mehr zur sozialen Krise aus. Ob sie auch zu Umwälzungen an der Staatsspitze führen wird, wird zunehmend zur großen Frage.

MOSKAU. Wenn die kommunikationsscheue russische Staatsführung plötzlich medienwirksame Aktivitäten entwickelt, ist das schon eine Botschaft für sich. Wenn die Aktivität dabei ganz von Thronfolger Dmitrij Medwedjew ausgeht, wähnt die Beobachterszene in Moskau zusätzlich zur Wirtschaftskrise eine einschneidende Machtverschiebung an den Schaltstellen der Macht in Gang.

Medwedjew emanzipiert sich von seinem schier übermächtigen Ziehvater, Premier Wladimir Putin, heißt es nun. Und Medwedjew schlägt den Ton an, wenn es darum geht, dem Volk gegenüber die Wirtschaftskrise nicht mehr zu beschönigen und Russland durch die mageren Jahre zu führen.

Die neue Offenheit demonstrierte der 43-jährige Kremlchef mit dem ersten einer regelmäßigen Reihe von Interviews im rus–sischen Fernsehen. Die Leute sollten von einem „ziemlich schwierigen Szenario der Krisenentwicklung“ ausgehen, meinte Medwedjew. Noch vor Kurzem hatten Putin und seine Getreuen Russland als „Hafen der Stabili–tät“ im weltweit unruhigen Meer hochgepriesen. Ob es tatsächlich innerhalb des russischen Führungstandems kracht oder ob sich Medwedjew von Putin taktisch wohl oder übel distanzieren muss, weil diesem durch die Regierungszuständigkeit für die Krise ein Popularitätsverlust droht: Faktum ist, dass die Regierung selbst von Medwedjew kritisiert wird.

Diese Woche veröffentlichte er die ersten 100 Namen jener Liste von Auserkorenen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Beamtentum, mit denen Medwedjew seinen eigenen Kader auf Kosten der Geheimdienstaufsteiger ausweiten will. Zu Wochenbeginn wechselte er kurzerhand vier Gouverneure aus. Letzteres sei nicht mehr als eine „rituelle Geste des Zaren“, kommentiert die Internetzeitung „Gazeta.ru“ Medwedjews angebliches Vorhaben, die regionalen Eliten nach ihrer Fähigkeit zur Krisenbekämpfung zu beurteilen.

Reservefonds als Rettungsanker

Der Kreml will dem ganzen Land engagiertes Krisenmanagement signalisieren. Die Krise nämlich lässt die Wirtschaft aktuellen Prognosen zufolge von den noch 8,1 Prozent im Jahr 2007 und 5,6 Prozent 2008 heuer auf minus 2,2 Prozent schrumpfen. Schon jetzt stehen Förderbänder in der Metallurgie oder Autobranche still. Die Arbeitslosenzahl stieg im Jänner auf mittlerweile 8,1 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung. Die soziale Krise vor allem in Industriestädten dürfte in den nächsten Monaten wenigstens zu lokalen Protestaktionen führen.

Mehr und mehr wird daher darüber spekuliert, wie krisensicher eigentlich die Machthaber in Moskau im Sattel sitzen. „Solange der Reservefonds reicht, gibt es kein Problem“, erklärt Alexej Makarkin vom Institut für politische Technologien: „Für 2009 reicht er noch. Wenn sich dann die Wirtschaft nicht erholt, müssen unpopuläre Maßnahmen gesetzt werden.“

Dass man etwaige Demonstrationen unerbittlich niederschlagenwürde, hat Medwedjew schon im Herbst angedroht und bei den unerwarteten Protesten im Fernen Osten gegen höhere Zölle auf Importautos neulich auch bewiesen. „Es gibt da oben eine gewisse Nervosität“, meint Makarkin.

Dass das Vertrauen in die Regierung sukzessive sinkt, wird von allen Umfrageinstituten belegt. Trotz leichtem Popularitätsverlust aber genießt Putin noch das Vertrauen von 59 Prozent der Bevölkerung, Medwedjew liegt bei stabilen 45 Prozent. Makarkin weist denn auch darauf hin, dass das Volk im Unterschied etwa zu Lettland oder Litauen die Machthaber nicht als Verantwortliche für die Krise, sondern vorwiegend als Schutz vor ihr auffasse.

Die politischen Umwälzungen werden auch nicht von unten kommen, hält der Oppositionspolitiker Wladimir Milow fest: Sie würden vielmehr innerhalb der nervös gewordenen Elite stattfinden. Ob Putin dafür geopfert werde, habe nur sekundäre Bedeutung. Denn am System ändere sich so lange nichts, bis das Volk sein Mitspracherecht einfordere.

AUF EINEN BLICK

Nach den Wachstumsjahren wird die russische Wirtschaft heuer um über zwei Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosigkeit ist im Jänner offiziell auf 8,1 Prozent gestiegen, liegt tatsächlich aber bedeutend höher. Nicht wenige Beobachter erwarten, dass die zu erwartende schwere soziale Krise in Protest umschlagen könnte.

Die große Angst der Führung ist, dass der Protest der verarmten Bevölkerung auch zu politischem Aufruhr führt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2009)

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