Türkei: Erdoğans Justiz startet Großangriff auf Regierungskritiker

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Der türkische Präsident Erdoğan rechnet mit Anhängern seines Intimfeindes Gülen ab und lässt den „Zaman“-Chefredakteur verhaften.

Istanbul. Türkische Journalisten sind einiges gewohnt, wenn es um Druck und Einschüchterung geht. Aber was sich am Sonntag in Istanbul abspielte, war selbst für die türkische Medienlandschaft einmalig: Die Polizei drang in das Redaktionsgebäude der Zeitung „Zaman“ ein und verhaftete den Chefredakteur. „Zaman“ steht der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahe, des Exmitstreiters und jetzigen Intimfeindes von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Insgesamt wurden im ganzen Land 25 Menschen festgenommen.

Erdoğan-Gegner sprachen von einem Schlag gegen die Pressefreiheit kurz vor dem Jahrestag des Bekanntwerdens der Korruptionsvorwürfe gegen die Erdoğan-Regierung am 17. Dezember 2013. Die Festnahmewelle ist erwartet worden; seit Tagen kündigte ein für diese Art von Enthüllungen bekannter Twitter-Nutzer mit dem Tarnnamen Fuat Avni die Razzien an.

„Zaman“ und der ebenfalls zur Gülen-Bewegung gehörende Fernsehsender Samanyoulu TV standen im Mittelpunkt der Aktion. Selbst Drehbuchautoren des Senders wurden verhaftet. Hinter den Festnahmen stand laut Medienberichten derselbe Richter, der die Hauptbeschuldigten in den Korruptionsermittlungen gegen die Regierung aus der Untersuchungshaft entlassen hatte.

„Zaman“-Kolumnist Mustafa Yilmaz, der am Sonntag im Gebäude seiner Zeitung ausharrte, sagte der „Presse“, das Vorgehen der Sicherheitskräfte sei eine „Schande“. Die zivilen Behörden verhielten sich wie bei einem Militärputsch. Er rechne mit weiteren Festnahmen in den kommenden Tagen. Türkische Journalistenverbände kritisierten das Vorgehen der Polizei. Die erste Reaktion der Regierung kam von Gesundheitsminister Mehmet Müezzinolu: „Die, die Falsches getan haben, bezahlen jetzt die Zeche“, sagte er. „Was ist das nur für ein Land?“, kommentierte die Historikerin Ayse Hür auf Twitter.

Vor laufenden Kameras abgeführt

Vor dem „Zaman“-Gebäude versammelten sich hunderte Gülen-Anhänger und protestierten mit Parolen wie „Die freie Presse lässt sich nicht den Mund verbieten“ gegen die Polizeiaktion. Die Sicherheitsbehörden ließen einen Hubschrauber über dem Redaktionsgebäude kreisen. Nach einem ersten vergeblichen Versuch am Morgen kehrten die Beamten am Mittag zurück, um Chefredakteur Ekrem Dumanli abzuholen. Der Journalist wurde vor laufenden Kameras abgeführt. Den Beschuldigten wird die Bildung einer illegalen Organisation mit dem Ziel eines Staatsstreiches vorgeworfen. Laut regierungstreuen Medien stützten sich die Haftbefehle auf ein angeblich illegales Vorgehen von Gülen-treuen Justiz- und Medienvertretern gegen einen internen Rivalen des Predigers im Jahr 2010.

Doch nach Meinung der meisten Beobachter war das nur ein Vorwand: In Wirklichkeit gehe es ein Jahr, nachdem Gülen-treue Staatsanwälte mit den Korruptionsvorwürfen gegen die Erdoğan-Regierung an die Öffentlichkeit gegangen waren, um einen Racheakt des Erdoğan-Lagers. Die Aktion wirke „wie ein neuer Versuch, kritische Medien unter Druck zu setzen“, erklärte die Türkei-Vertreterin der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, Emma Sinclair-Webb.

Präsident drohte der Gülen-Bewegung

Erdoğan nahm 2013 den Kampf gegen seinen früheren Unterstützer Gülen auf, nachdem Erdoğan-Anhänger und Gülen-Gefolgsleute bei der Besetzung von Posten im Staatsapparat zu erbitterten Konkurrenten geworden waren. Seither wirft Erdoğan dem Prediger den Aufbau paralleler Strukturen im Staat vor und spricht von einem Putschversuch, was Gülen zurückweist. Erst in den vergangenen Tagen hat Erdoğan bekräftigt, die Gülen-Anhänger bis in den letzten Winkel ihrer Verstecke verfolgen zu wollen.

Die EU und die USA haben nach Einschätzung von Beobachtern kaum Möglichkeiten, auf den türkischen Präsidenten einzuwirken. Jetzt räche sich, dass westliche Spitzenpolitiker, wie US-Präsident Barack Obama, bei Erdoğan nie die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien eingefordert hätten, sagt der regierungskritische Journalist Yavuz Baydar zur „Presse“. „Wir sind auf dem Weg in einen dunklen Tunnel, an dessen Ende kein Licht zu sehen ist.“

AUF EINEN BLICK

Der türkische Prediger Fethullah Gülen, der in den USA im Exil lebt, war lange Zeit ein enger Verbündeter des türkischen Staatspräsidenten, Recep Tayyip Erdoğan. Gülen unterstützte Erdoğan bei dessen politischem Aufstieg. Vor einem Jahr kam es aber zum Bruch zwischen den beiden. Erdoğan warf damals der Gülen-Bewegung vor, Justiz und Polizei unterwandert zu haben. Er war erbost darüber, dass Personen aus seinem engsten Umfeld unter Korruptionsvorwürfen festgenommen worden waren.

Die einflussreiche Zeitung „Zaman“ steht der Gülen-Bewegung nahe. Am Sonntag wurden „Zaman“-Chefredakteur Ekrem Dumanli sowie auch zahlreiche weitere Erdoğan-kritische Journalisten verhaftet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2014)

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