Die Vergessenen des Syrien-Krieges

A refugee from the minority Yazidi sect wraps himself with a blanket as he stands on a muddy path during wintry weather at Nowruz refugee camp in Qamishli
A refugee from the minority Yazidi sect wraps himself with a blanket as he stands on a muddy path during wintry weather at Nowruz refugee camp in QamishliReuters
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Jeder zweite Syrer hat durch den blutigen Konflikt sein Heim verloren. 3,5 Millionen Flüchtlinge haben in den Nachbarländern Unterschlupf gefunden, weitere 6,5 Millionen hausen in Syrien in notdürftigen Unterkünften.

Sie haben keinen Strom und kein fließend Wasser. Die Toiletten haben nur ein provisorisches Dach und statt einer Tür nur Plastikvorhänge. Atme ist eines der schlimmsten syrischen Flüchtlingslager. Es liegt im Norden des Landes, direkt an der Grenze zur Türkei – mitten im Rebellengebiet. Die Herrscher haben oft gewechselt: Einmal bestimmte die Freie Syrische Armee (FSA), dann der Islamische Staat (IS) und danach die Islamische Front. „Alle haben uns bestohlen“, sagte Mohammed, ein junger Mann, der vor dem Krieg Englisch studierte und Lehrer werden wollte. „Sie haben sich von den Hilfspaketen genommen, was sie wollten.“ Mohammed ist mit seiner Familie vor einem Jahr angekommen. „Unser Haus hier in der Nähe ist zerstört worden. Das Lager war der nächste Zufluchtsort.“ Seine Familie gehört nun zu rund 30.000 Menschen, die in Atme leben. Das ist nur ein Bruchteil der insgesamt 6,5 Millionen syrischen Binnenflüchtlinge.

Keine Chance auf Asyl. In Atme baut man mittlerweile statt Zelten kleine Häuschen. An eine Rückkehr in die Heimatorte denkt niemand. Das Ende des Krieges ist nicht abzusehen. Und eine Chance auf Asyl in einem europäischen Land oder in den USA gibt es für sie nicht. Dazu hätten die Lagerbewohner in eines der offiziellen Camps in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Ägypten oder im Irak flüchten müssen. Hier in Atme sitzt man fest. Die türkischen Soldaten sind deutlich zu sehen, die in etwa 100 Meter Entfernung an der Grenze Wache schieben.Die Nachbarländer sind heilfroh, wenn nicht noch mehr Flüchtlinge aus Syrien kommen. Sie haben bereits 3,5 Millionen aufgenommen und sind an die Grenzen ihrer Kapazitäten gestoßen.

Am Beispiel des Libanon wird das am deutlichsten. Das kleine Land am Mittelmeer mit drei Millionen Einwohnern hat über mehr als eine Million Syrer aufgenommen. Es fehlt an allem: Wohnraum, Geld, Schulen und medizinischer Versorgung. Aber auch die Bereitschaft ist gesunken, noch mehr Menschen aufzunehmen. Der Konflikt ist in den Libanon übergeschwappt. Radikale Islamistengruppen aus Syrien versuchen den Zedernstaat zum Schlachtfeld zu machen.

„Ich will hier raus“, sagt Bilal, der mit seiner Frau und zwei Kindern aus Aleppo in den Libanon geflüchtet ist. „Wir wollen nach Europa oder irgendein anderes Land, in dem wir in Frieden leben können, und unsere Kinder eine Zukunft haben.“ Bilals Familie ist durch den Bürgerkrieg in der Region verstreut. Eine Schwester ist mit ihrem Mann in einem Flüchtlingscamp in Jordanien, zwei Brüder und eine weitere Schwester in der Türkei. Es ist ein Schicksal, wie es typisch für viele syrische Familien ist. „Wir alle versuchen Asyl zu bekommen, aber bisher vergeblich“, erzählt Bilal deprimiert. „Unsere Ersparnisse sind aufgebraucht, wir wissen nicht mehr, wie wir über die Runden kommen sollen.“

UNHCR fordert mehr Hilfe. Viele Chancen haben Bilal und seine Familie nicht. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) hat die Staatengemeinschaft aufgefordert, mehr für die syrischen Flüchtlinge zu tun. Seit Beginn des Bürgerkriegs vor vier Jahren konnten 190.000 Flüchtlinge im Ausland Aufnahme finden. Nun forderte das UNHCR weitere 100.000 Plätze. Niemand reißt sich um die Flüchtlinge. Bisher haben 28 Länder eine Zusage für insgesamt 66.254 Syrer gegeben. Elf weitere Länder wollen bereits bestehende Programme ausbauen. Bisher haben Deutschland (80.000) und Schweden (60.000) die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Österreich will im Rahmen eines Sonderprogramms insgesamt 1500 Menschen aufnehmen.

„Uns hat man total vergessen,“ sagt Mohammed, der Englischstudent. „Wir bekommen kaum ausreichend Hilfe und von einem Visum können wir nicht einmal träumen.“ Er will Atme möglichst bald verlassen und irgendwo in Syrien etwas Nützliches tun. „Ich werde etwas finden. Denn hier kann man nicht tagaus, tagein auf etwas warten, das nicht kommt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

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