Wie weit darf Satire in einem islamischen Land gehen?

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Die türkische Satirezeitschrift "Uykusuz" kommt regelmäßig in Konflikt mit dem politischen Establishment. Ein Besuch in der Redaktion.

Die Schreckensnachricht aus Paris traf Leute wie Bariş Uygur wie ein Hammerschlag. Im Kugelhagel in den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo“ starb beim Angriff der Kouachi-Brüder „unsere vielleicht einzige Familie“, sagt der 36-Jährige aus Istanbul. Bariş Uygur ist Redakteur des türkischen Satiremagazins „Uykusuz“ und fühlt sich den Kollegen in Paris ganz besonders eng verbunden: „Diese Leute waren für uns wie Brüder.“

Mit den beiden anderen großen Satirezeitschriften der Türkei, „LeMan“ und „Penguen“, verständigte sich die Redaktion von „Uykusuz“ darauf, nach dem Anschlag von Paris dasselbe Titelblatt für alle drei Magazine zu drucken: eine Sprechblase mit dem Satz „Je suis Charlie“ vor schwarzem Hintergrund. Ob die türkischen Magazine in den kommenden Wochen auch Zeichnungen aus der neuen Ausgabe von „Charlie Hebdo“ übernehmen, ist offen.

Eine solche Übernahme wäre ein Wagnis. Die Tageszeitung „Cumhuriyet“, die vor wenigen Tagen vier Seiten aus „Charlie Hebdo“ nachdruckte, sah sich wütenden Reaktionen aus islamistischen Kreisen und der islamisch-konservativen Regierung ausgesetzt. Inzwischen ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft gegen die Zeitung, weil zwei Kolumnisten die besonders umstrittene Mohammed-Karikatur des Titelblatts von „Charlie Hebdo“ veröffentlichten. Der Strafvorwurf lautet religiöse Hetze.

Nicht zum ersten Mal schreitet die türkische Justiz wegen angeblicher Islam-Beleidigung durch Karikaturisten ein. Vor vier Jahren musste sich ein Zeichner des Satireblatts „Penguen“ vor Gericht verantworten, weil in einer seiner Karikaturen über den Gläubigen in einer Moschee auf einer Säule der Spruch zu lesen war: „Es gibt keinen Gott, und die Religion ist eine Lüge.“ Jetzt, nach dem Anschlag von Paris, erinnerten Regierungsanhänger mit drohendem Unterton an diese Zeichnung. „Der Glauben der Nation“ dürfe nicht beleidigt werden, schrieb Ibrahim Yörük, ein Kommentator der regierungsfreundlichen Zeitung „Vahdet“, und setzte an „Penguen“ gerichtet hinzu: Die Karikaturisten sollten aus „Fehlern“ lernen. Das ging selbst dem regierungstreuen Arbeitgeber von Yörük zu weit: Sie feuerte den Kolumnisten.

In der Nähe des Redaktionsgebäudes von „Cumhuriyet“ versammelten sich unterdessen islamistische Demonstranten, um gegen die Veröffentlichung der neuen „Charlie Hebdo“-Karikaturen zu protestieren. Die Polizei riegelte das Gebäude ab – hatte aber vorher die Auslieferung der „Cumhuriyet“-Ausgabe mit den Zeichnungen vorübergehend gestoppt.

Leicht, aber riskant. Fühlt sich „Uykusuz“-Redakteur Bariş Uygur angesichts der spannungsgeladenen Atmosphäre gefährdet? „An uns selbst haben wir noch nicht gedacht“, sagt Uygur. Zu tief sitze der Schock über die Ereignisse von Paris. In den Redaktionsräumen von „Uykusuz“ im Istanbuler Boheme-Viertel Beyoğlu hakt Uygur eine Skizze für eine Zeichnung in der neuen Ausgabe des Wochenblatts ab und schüttelt eine neue Zigarette aus der Packung, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Über seinem Arbeitsplatz hängt dichter Tabakrauch in der Luft.

Satire in der Türkei Erdoğans ist leicht, aber potenziell riskant: leicht, weil das Land viel Absurdes liefert – und riskant, weil Politik und Justiz keinen Spaß verstehen. Erst vor Kurzem ließen die türkischen Behörden regierungskritische Journalisten wegen angeblicher staatsfeindlicher Aktivitäten festnehmen. Dennoch pries Staatschef Recep Tayyip Erdoğan fast gleichzeitig die Pressefreiheit in der Türkei als international vorbildlich.

Bei „Uykusuz“ schaut sich Uygur eine neue Skizze an. Uykusuz bedeutet schlaflos – eine Anspielung darauf, dass die Macher der Zeitschrift vor dem wöchentlichen Erscheinungstag oft die Nächte durcharbeiten. Rund 70.000 Exemplare verkauft das 2007 gegründete Magazin jede Woche, rund die Hälfte davon in Istanbul, die andere Hälfte in anatolischen Städten wie Ankara, Izmir oder Eskisehir. Damit ist „Uykusuz“ die größte Satirezeitschrift des Landes, doch viel weniger verkauft die Konkurrenz von „LeMan“ und „Penguen“ auch nicht.

Ein Mann findet sich häufiger als andere auf der Seite eins aller drei Hefte: Recep Tayyip Erdoğan. Kürzlich ließ „Uykusuz“ einen finster dreinblickenden Präsidenten auf dem Titel beklagen, dass junge Türken die Inschriften auf den osmanischen Grabsteinen ihrer Vorfahren nicht mehr lesen könnten – eine Anspielung auf die Forderung des Präsidenten nach osmanischem Sprachunterricht als Pflichtfach in den Schulen. „Uykusuz“ konterte mit Bitterkeit. Auf dem Titelbild schwebte Erdoğans Porträt mit der Aussage über die mangelnden Osmanisch-Kenntnisse junger Türken drohend über einem Friedhof mit Grabsteinen der Todesopfer von Polizeigewalt bei den Gezi-Protesten im vergangenen Jahr. Daneben stand der Spruch: „Die Grabsteine sind doch eigentlich ziemlich gut zu lesen.“

Uygur besuchte in Istanbul eine deutsche Schule und verbrachte anschließend ein halbes Jahr in München. Wenn der 36-Jährige nicht Satire macht, schreibt er Istanbul-Krimis, die auf Deutsch vom Berliner Verlag Binooki herausgebracht werden. Sein Deutsch ist fast perfekt, weshalb er die Unterschiede zwischen der türkischen und der deutschen Satirelandschaft ganz gut beurteilen kann. Die „Titanic“ kenne er, aber für die Türkei sei das nichts, sagt Uygur und nimmt einen Schluck Tee. „Monatliche Satirezeitschriften wie in Deutschland hätten hier keinen Sinn.“ Türkische Satire muss schneller auf politische Entwicklungen reagieren können. „Hier passiert in einer Woche mehr, als Luxemburg in seiner ganzen Geschichte erlebt hat.“

Als Mitbegründer von „Uykusuz“ schreibt Uygur wöchentliche Kolumnen für das 16-seitige Blatt. Das Redaktionsbüro im Hinterhaus einer Straße in Beyoğlu ist geräumig, die drei Redakteure und 30 Zeichner können sich auf eine treue Leserschaft verlassen. An den Wänden hängen große Zeichnungen und eine Collage aus mehreren hundert Titelblättern. Aus den Fenstern geht der Blick auf Istanbuler Hinterhöfe. Ein Idyll, könnte man meinen.

Alles für den Staat. Dabei stehen die Medien in Erdoğans Türkei unter wachsendem Druck, auch ohne Attentate. Viele Zeitungen und TV-Sender gehören zu Mischkonzernen, die sich mit einer regierungsfreundlichen bis unterwürfigen Berichterstattung die Gunst des Präsidenten verschaffen oder erhalten wollen, um bei Staatsaufträgen bedacht zu werden. Andere Mediengruppen wurden gleich von Erdoğan-freundlichen Unternehmern gegründet, angeblich auf Befehl des Präsidenten. Dutzende kritische Journalisten haben in den vergangenen Jahren ihre Jobs verloren. Hinzu kommen Gerichte, für die Presse- und Meinungsfreiheit häufig weniger wichtiger sind als der Schutz des Staates vor angeblichen Angriffen, und eine Regierung, die überall Feinde und potenzielle Putschisten wittert.

Satire ist nicht sehr beliebt bei den Mächtigen. Aber sie ist wichtig für viele Türken. „Während der Gezi-Proteste schoss unsere Auflage nach oben“, erzählt Uygur. Damals, im Frühsommer 2013, blamierten sich die etablierten Medien, weil sie die Proteste verniedlichten oder verschwiegen. Der Nachrichtensender CNN-Türk brachte einen Dokumentarfilm über Pinguine, während in Istanbul die Straßen brannten. „Kein Mensch wollte da noch eine normale Zeitung lesen“, sagt Uygur. Die Satiremacher dagegen werden respektiert, weil sie anders sind als andere und sich in der Gezi-Krise treu blieben. Wenn die „Uykusuz“-Redaktion zu Lesereisen nach Anatolien aufbricht, kommen mehrere tausend Menschen zu den Signierstunden.

Gekränkter Präsident. Ob gedruckt, im Fernsehen oder im Internet – Erdoğan kann mit Satire wenig anfangen, er empfindet sie oft als Beleidigung und hat in den vergangenen Jahren immer wieder Karikaturisten verklagt. Musa Kart, Zeichner der „Cumhuriyet“, wurde gleich mehrmals auf Betreiben des Präsidenten vor Gericht gestellt. In einem Fall monierte Erdoğan, dass Kart ihn als Katze dargestellt hatte. Vor ein paar Wochen wies ein Istanbuler Gericht die jüngste Klage Erdoğans gegen den Karikaturisten ab. Auch „Penguen“ wurde schon von Erdoğan verklagt, ohne Erfolg allerdings. „Uykusuz“ ist bisher von größeren Prozessen verschont geblieben.

In einem Land, in dem nach einigen Zählungen zwischenzeitlich mehr Journalisten im Gefängnis saßen als in China oder im Iran, macht sich „Uykusuz“ ungestraft über die Mächtigen lustig. Wie kann das sein? Uygur benutzt eine neue Zigarette als Zeigestock, mit dem er seine Worte mit Strichen durch die Luft bekräftigt. „Die können uns nichts anhaben“, sagt er. „Uykusuz“ will keine Staatsaufträge und keine Anzeigen, sondern finanziert sich allein aus dem Verkauf der Hefte und von Sammelbänden. „Man kann uns nicht erpressen“, sagt Uygur.

Wie lang „Uykusuz“ damit noch durchkommt, ist fraglich. Erst kürzlich wurde im Morgengrauen die TV-Moderatorin Sedef Kabaş von der Polizei abgeholt, weil sie sich per Twitter kritisch zur Korruptionsaffäre um Erdoğans Beraterkreis geäußert hatte. Die prominente 44-Jährige, die mit ihrer Sprayfrisur eher einer biederen Hausfrau gleicht als einer Revoluzzerin, hatte mit einem Tweet gegen die Einstellung der Korruptionsermittlungen gegen die Regierung protestiert – heutzutage schon Grund genug für die Polizei, ihre Wohnung zu durchsuchen und Computer und Handy zu beschlagnahmen.

Steckbrief

Bariş Uygur ist der Mitbegründer des türkischen Satiremagazins „Uykusuz“ (übersetzt: „Schlaflos“). Das 16 Seiten starke Blatt erscheint wöchentlich in einer Auflage von 70.000 Stück. Produziert wird es von drei Redakteuren und 30 Zeichnern.

Der 36-jährige Uygur besuchte in Istanbul eine deutsche Schule und verbrachte anschließend ein halbes Jahr in München. Er schreibt auch Istanbul-Krimis, die auf Deutsch vom Berliner Verlag Binooki herausgebracht werden.

Gemeinsam mit den anderen zwei Satirezeitschriften der Türkei – „LeMan“ und „Penguen“ – hat „Uykusuz“ das neue Titelblatt im Gedenken an „Charlie Hebdo“ gestaltet: eine schwarze Seite mit der weißen Aufschrift: „Je suis Charlie“.
? Binooki Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2015)

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