„Die Russen haben ihre Sprache zertrümmert“

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Peter Pomerantsev ging 2001 nach Moskau, um beim Aufbau der Demokratie mitzuhelfen. Nach Jahren in der TV-Industrie ist er desillusioniert: Russland sei heute jene Diktatur, vor der seine russischen Freunde ihn damals warnten.

Auf einer der ersten Seiten seines Buches „Nothing is True and Everything is Possible“ beschreibt Peter Pomerantsev ein Treffen mit führenden russischen Fernsehproduzenten in Ostankino, dem riesigen Moskauer Medienzentrum, zu dem er im Jahr 2006 eingeladen wurde. „Wir alle wissen, dass es keine echte Politik geben wird“, sagte einer der prominentesten russischen Fernsehjournalisten, eingehüllt in eine Wolke aus Zigarettenrauch: „Wir müssen unseren Zusehern aber noch immer das Gefühl geben, dass etwas passiert. Sie müssen unterhalten werden. Womit also sollen wir spielen? Sollen wir Oligarchen angreifen? Wer ist diese Woche der Feind? Politik muss sich anfühlen wie . . . wie ein Spielfilm!“

Heute klingen solche Worte haarsträubend, aber damals wollte Pomerantsev, der in London aufgewachsene Sohn eines Kiewer Paares von Dissidenten, das 1978 aus der UdSSR emigrierte, noch nicht so recht daran glauben, dass der Kreml seine Kontrolle über den öffentlichen Diskurs in Russland derart verstärken würde. 2001 war er voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Russland gegangen, erzählt Pomerantsev im Gespräch mit der „Presse“. „Die Stadt ging vor Leben über. Es war wie ein Wunder; das sowjetische Russland, das meine Eltern gekannt hatten, war vergangen, und ich hatte das Gefühl, dass sich dieses Land zu einer echten Demokratie entwickeln würde. Ich wollte dabei sein, wenn dieses aufregende neue Land entsteht.“

Putin, ein russischer Jedermann

Doch schon damals winkten seine russischen Freunde ab. „Sie sagten: „Du spinnst. Wovon redest du? Das wird wieder eine Diktatur werden. Nur die Westler waren so naiv.“ Der Pessimismus der liberalen Russen gründete vor allem in der, wie heute bekannt ist, von ehemaligen KGB-Kadern und Kremlstrategen gewissenhaft geplanten Installation Wladimir Putins als Nachfolger des erratischen Boris Jelzin. „Es ist eine interessante Frage, wie man Putin geschaffen hat“, sagt Pomerantsev. „Ich habe mit einem jener politischen Strategen gesprochen, die sich vor 2000 mit der Frage befassten, wer Jelzin folgen soll. Sie ließen damals nachfragen, wer bei den Leuten die beliebteste historische Gestalt sei. Und die Mehrheit sagte: Stierlitz. Das war so eine Art sowjetischer James Bond. Also sagten sie: Gut, wir brauchen einen Typen vom KGB, denn das ist die einzige Institution, die im Land noch respektiert wird. So wählten sie Putin aus.“ – Die Wahl erwies sich aus Sicht des Kremls als geglückt. Rasch wurde Putin zum Kriegshelden, verbrachte Neujahr an der tschetschenischen Front, trat in Kampfanzügen und mit martialischen Parolen auf. „Seine Stärke ist es, das Image der russischen Männlichkeit nach der Erniedrigung wiederhergestellt zu haben, die darin bestand, einen ständig betrunkenen Präsidenten Jelzin zu haben. Das war furchtbar für die Russen. So schuf man einen russischen Jedermann, der für alle alles bedeutet.“ Aus diesem Grund schreibt Pomerantsev in seinem Buch durchwegs nur vom „Präsidenten“. „Ich wollte seinen Namen nicht verwenden, weil ich nicht an einer Putin-Biografie interessiert war oder daran, ihn zu psychologisieren. In meiner Erfahrung ist er eine künstlich geschaffene Medienfigur. Die hätten genauso gut einen anderen zu dieser Figur machen können, die dann, gleichsam wie Frankensteins Monster, die Macht an sich reißt.“

Das System glaubt seine eigenen Lügen

Das Russland, das er als Produzent von Reality-TV-Shows und Sozialreportagen bereiste, ist trist. Der Leser dieses hervorragenden Buches trifft sibirische Mafiosi, die ihre Erfahrungen mit dem Erpressen, Rauben und Morden in Groschenromanen und Filmen verarbeiten; Mannequins, die New-Age-Sekten verfallen und sich umbringen, ohne die Behörden zu einem Einschreiten zu bewegen; arme Burschen, die während ihres Wehrdienstes von ihren Offizieren zu Tode gefoltert werden. Allerorten gähnt spirituelle und moralische Leere. Die alten sowjetischen Vorbilder sind entwertet, der Pluralismus offener Gesellschaften ist zu fern.

„Es hieß ständig: ,Modernisierung, Modernisierung, Demokratie, Demokratie‘ – aber das Land tat genau das Gegenteil davon“, erinnert sich Pomerantsev. „Auf sehr surreale Weise hörten die Wörter auf, etwas zu bedeuten. Man kann Begriffe wie ,Demokratie‘ oder ,Menschenrechte‘ in den Mund nehmen, ohne dass sie noch etwas bedeuten. Die Russen haben ihre Sprache zertrümmert. Es gibt heute in Russland keinen Raum mehr für wahrhaftigen Diskurs. Das System kopiert seine eigene virtuelle Realität.“

Nach der Niederschlagung der Proteste gegen den Betrug bei der Wahl zur Duma Ende 2011 war ihm klar, dass er die Moskauer Medienblase verlassen musste. „Ich erkannte: Ich bin nicht allein, da ist eine ganze Generation, hunderttausende Leute, die auf die Straße gehen, weil sie nicht in einer Gesellschaft der Scheinbilder leben wollen.“

Die Frage, wann Putin von der Realität eingeholt wird, kann Pomerantsev nicht beantworten: „Historisch betrachtet brauchen Diktaturen keine gute Wirtschaft, solange sie den Sicherheitsapparat und die Propaganda kontrollieren. Und diese stärkt Putin enorm, mit Gehaltserhöhungen für die Kader und einer Verdichtung der Propaganda, die mehr als erschreckend ist.“ Die westlichen Wirtschaftssanktionen allein würden jedenfalls keinen Umschwung bewirken: „Für russische Begriffe ist das keine Krise. Die Russen sind viel härter als die Westler. Ich war 2008 in Russland, als die ganze Welt wegen der Finanzkrise einen Herzinfarkt hatte. Die Russen, die ich kannte, auch sehr reiche Russen, sagten: ,Das ist keine Krise. Eine Krise war 1991, als wir kein Brot hatten.‘“

Zur Person

Peter Pomerantsev (*1977 in Kiew) kam mit neun Monaten nach London, nachdem seine Eltern aus der UdSSR emigriert waren. Er arbeitete ab 2006 für Moskauer TV-Sender, ehe er das Land nach der Niederschlagung der Proteste gegen Putin 2011/12 verließ. Das beschreibt er in seinem Buch „Nothing is True and Everything is Possible: The Surreal Heart of the New Russia“ (Public Affairs, New York, 2014, auf Deutsch demnächst bei DVA). [ YouTube]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2015)

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